Karl-Heinz Rueß
Das öffentliche Gedenken am Synagogenplatz in unserer Stadt im November 2001 war von dem Erinnern an die Reichspogromnacht ebenso bestimmt wie vom Wissen um die vor 60 Jahren begonnene Deportation der Juden aus württembergischen Dörfern und Städten. Auch in Göppingen geschah dieses Unrecht unter den Augen Vieler, als am 27. November 1941 40 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens sich in der Schillerschule für den Abtransport nach Osten versammeln mussten. Von dieser Gruppe, die über das Sammellager auf dem Killesberg in Stuttgart in das Konzentrationslager Riga verschleppt wurde, überlebte nur eine einzige Person. Noch im Februar 1945 - Auschwitz war schon befreit - wurde die sog. "Endlösung der Judenfrage" in unverminderter Härte betrieben: Damals mussten noch zwei Göppinger Juden einem Befehl zum "Arbeitseinsatz" im Konzentrationslager Theresienstadt Folge leisten. Am Ende der NS-Diktatur waren 100 Göppinger Juden direkt aus ihrer Heimatstadt oder indirekt über unfreiwillige Zwischenaufenthalte in jüdischen Altersheimen deportiert worden. 91 von ihnen sind als Opfer des Holocaust zu beklagen. An ihren Leidensweg und Schicksal erinnert der Gedenkstein im Göppinger Schlossgarten. Der Monolith ist ein Stein des Anstoßes zum stillen Nachdenken. Einen lebendigen Zugang zur Geschichte und dem Weg der Göppinger Juden schafft insbesondere das Jüdische Museum im Stadtbezirk Jebenhausen, indem es Begegnungen mit Überlebenden des Holocaust und deren Nachkommen ermöglicht und geschichtliche Ereignisse am Beispiel von Einzelschicksalen aufzeigt. Aus der Arbeit des Museums ist diese Veröffentlichung hervorgegangen, die auf einem Vortag von Stadtarchivar Dr. Karl-Heinz Rueß am 6. November 2001 im Jüdischen Museum beruht. Die Drucklegung förderte dankenswerterweise das Referat Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Damit kann die Darstellung jenes ungeheueren Verbrechens, das an unseren jüdischen Mitbürgern begangen wurde, einem größeren Kreis zugänglich gemacht werden. Ich wünsche, dass diese Veröffentlichung in der Bürgerschaft eine gute Aufnahme und reges Interesse findet.
Reinhard Frank
Oberbürgermeister
Vor 60 Jahren, in den letzten Novembertagen und am ersten Dezembertag des Jahres 1941, wurden auf Anweisung der Staatspolizeileitstelle Stuttgart die ersten 1000 jüdischen Bürger aus Württemberg nach Riga deportiert. Damit begann die systematische Verschleppung und Ermordung der Juden, nachdem in den Jahren zuvor die Politik des NS-Staates vor allem die Diffamierung, Entrechtung und gesellschaftliche Ausgrenzung vorbereitete und auf die Austreibung der Bürger jüdischen Glaubens zielte. Dieser Gedenktag im Jahr 2001 gibt einmal mehr Anlass, auf das in seinem Ausmaß und seiner Brutalität unvorstellbar große Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zurückzublicken, auf die Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern im Osten.
Dies geschieht mit dieser Schrift aus lokalgeschichtlicher Sicht nicht zum ersten Mal. Nach dem Willen von Landtag und Landesregierung wurde 1962 die Dokumentation der Schicksale der jüdischen Bürger während der NS-Zeit in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht. 1 Dies führte auch in Göppingen zu einer Sichtung der vorhandenen Unterlagen. Zwei Ordner füllten die vom Stadtarchiv bearbeiteten Fragebogen, auf denen - soweit feststellbar - Angaben über Wegzug, Emigration, Deportation und das weitere Schicksal der jüdischen Bürger zusammengetragen worden waren. Diese Auflistung von Namen und Daten vertiefte der Lehrer Georg Weber aus Aufhausen, indem er Kontakt zu den aus dem Kreis Göppingen ausgewanderten und vertrieben Juden aufnahm und sie als Zeitzeugen um die Schilderung ihrer Erlebnisse bat. Er handelte ganz im Sinne der Initiative der Landesregierung zur Erforschung der Judenschicksale, die vorneherein die Ergebnisse ihrer Untersuchung veröffentlichen wollte, um sie "in einer dafür geeigneten Form Lehrern und Schülern in die Hand zu geben", damit dieses Thema "in der Jugenderziehung und Erwachsenenbildung" und "besonders im staatsbürgerlichen Unterricht" erörtert werden kann. 2 Georg Weber legte die Ergebnisse seiner Recherchen in der Zulassungsarbeit zur Zweiten Dienstprüfung nieder. Er gab ihr den Titel "Zeugnisse der Judenverfolgung im Kreis Göppingen 1933-1945". 3 Im Vorwort dazu beschreibt er das Anliegen seiner Forschungsarbeit: "Sie will die schweren Leiden, die hinter dem Schicksal eines jeden Verfolgten stehen, sichtbar werden lassen und ein Markstein sein auf dem Wege, der zur Ehrfurcht vor dem Leben führt." 4
In den 1980er Jahren gab es zwei weitere Anlässe zur Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen und damit auch mit dem bitteren Ende der jüdischen Gemeinde. 1981 war der 100. Jahrestag der Einweihung der Göppinger Synagoge. Stadtarchivar und Museumsleiter Dr. Dieter Kauß konzipierte dazu die im Stadtmuseum gezeigte Ausstellung "Juden in Jebenhausen und Göppingen 1777 bis 1945". Sie stieß wie die gleichnamige Begleitschrift auf großes Interesse. 5 Der zweite Anlass, auf die Geschichte der jüdischen Gemeinde zurückzublicken, war der 50. Jahrestag der Zerstörung der Synagoge. Auf Einladung der Stadt Göppingen hielt Inge Auerbacher, die im August 1942 als Kind mit ihren Eltern in das KZ Theresienstadt deportiert worden war und wie ihre Eltern das Glück hatte, die Lagerhaft zu überstehen, am 9. November 1988 eine beeindruckende Gedenkrede am Platz der Synagoge. Unter den Zuhörern war Erwin Tänzer mit seiner Gattin, der im benachbarten Rabbinerhaus seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sein Vater, Dr. Aron Tänzer, war von 1907 bis zu seinem Tod im Jahr 1937 Rabbiner der jüdischen Gemeinde Göppingen. Er war auch der Chronist der jüdischen Gemeinden Jebenhausen und Göppingen, denen er mit dem 1927 erschienen Buch "Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen" ein literarisches Denkmal setzte. Der fast 600 Seiten starken Heimatgeschichte 6 stellte er damals die Widmung voran: "Der ehrenvollen Vergangenheit der Israelitengemeinde in Jebenhausen - Der hoffnungsvollen Zukunft der Israelitengemeinde in Göppingen". Der für die kommende Zeit bestimmte Wunsch hat sich nicht erfüllt. Obwohl Rabbiner Dr. Tänzer schon in den 1920er Jahren in Vortragsreisen gegen den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland deutlich Stellung bezog und die ihn bedrückenden Entwicklungen aufmerksam verfolgte, lag die Vorstellung, in einem Jahrzehnt später könnte die Zerstörung der Gemeinde und die physische Auslöschung ihrer Mitglieder eingeleitet werden, außerhalb jeder Vorstellungskraft. 1936 bilanzierte er angesichts fortgeschrittener Entrechtung und Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben nüchtern, aber immer noch mit einem Funken Hoffnung erfüllt, dass die nationalsozialistische Politik für die Juden in Württemberg "von den Errungenschaften eines Jahrhunderts nicht mehr als - das allerdings Wertvollste - den Fortbestand einer in sich geschlossenen jüdischen Gemeinschaft übrig gelassen" hat. 7
1988 ermöglichte der Göppinger Gemeinderat die Neuherausgabe von Dr. Aron Tänzers Geschichtswerk, das nur in wenigen Exemplaren in Bibliotheken und Privatbesitz noch vorhanden war. Das erste Exemplar des neu aufgelegten Buchs 8 konnte Verleger Anton H. Konrad Erwin Tänzer, dem Sohn des Autors, überreichen. Die Buchpräsentation fand in der Stadtbibliothek, zu deren Gründern Dr. Aron Tänzer
gehörte, statt. Der Neuausgabe
würde ein Lebensbild Dr. Aron Tänzers und ein Aufsatz
über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Göppingen
von 1927 bis zu ihrem Ende 1945 beigegeben. Letzterer enthielt auch
Namenslisten der aus Stadt und Kreis Göppingen deportierten
Juden, welche die zuvor erstellten Dokumentationen zum Schicksal
der Juden stellenweise ergänzen und auch weiterführen
konnten. Als 1992 das Jüdische Museum Göppingen in der
Alten Kirche Jebenhausen eröffnet wurde, konnte die
Dauerausstellung auf all diesen Forschungsergebnissen aufbauen.
Wenn es sich abermals lohnt, sich mit dieser Schrift dem
dunkelsten Kapitel deutscher und Göppinger Geschichte
zuzuwenden, dann auch deshalb, weil neu entdeckte Berichte den
Ablauf der Deportation in vielen Einzelheiten schildern. Die Leiden
der Betroffenen werden darin sichtbar. Und es wird erkennbar,
welche Dienststellen, Amtsträger und Personen mit der
"Aussiedlung" oder "Evakuierung" der Juden
in Stadt und Kreis Göppingen befasst waren, wie sie handelten
und welche Haltung sie dazu im Rückblick einnahmen. Dass es
überhaupt zur Entdeckung neuer Geschichtsquellen kam, verdankt
der Autor dem guten Erinnerungsvermögen eines Polizisten, der
das Jüdische Museum im Kreis seiner in Göppingen
ausgebildeten Kollegen besuchte. Am Schluss der Führung teilte
er mit, dass ihm heute wieder lebhaft vor Augen getreten sei, wie
er in den ersten Tagen seiner Lehrzeit bei der Göppinger
Polizei von seinem Vorgesetzten den Auftrag erhalten habe, alte
Akten für den Abtransport ins Staatsarchiv Ludwigsburg
zusammenzupacken. Damit verbunden sei der Rat gewesen, "wenn
er mal was G’scheits wissen wolle, doch genauer
hinzuschauen". Beim Anlesen - so erinnerte sich der
Museumsbesucher - habe er erkannt, dass es um die Aufgaben
der Polizei bei der Deportation der Juden gegangen sei. Und er habe
sich damals gefragt, warum ihn das interessieren solle - und
so sei sein Aktenstudium nur von kurzer Dauer gewesen.
Tatsächlich war die lang zurückliegende Ablieferung aus
Göppingen im Staatsarchiv Ludwigsburg vorhanden, wenn auch
noch nicht erschlossen und verzeichnet. Dennoch war es
möglich, den Aktenbund "Judendeportation 1941-1943
in Göppingen" und "Judendeportationen
1941-1943 im Landkreis Göppingen" 9 einzusehen und
auszuwerten. Das Aktenbüschel enthält rund 100 Blatt
Durchschriften von Ermittlungen und Vernehmungen der Göppinger
Kriminalpolizei. Der Schriftwechsel der Kriminalpolizei
Göppingen mit der Staatsanwaltschaft Ulm wies den Weg zu der
zu diesem Vorgang von der Staatsanwaltschaft angelegten Akte. 10
Diese enthält die von der Göppinger Polizei erstellten
und übersandten Originalschriften der Ermittlungen, einige
weitere Protokolle von Vernehmungen, welche die Staatsanwaltschaft
während der Untersuchung für erforderlich hielt und
anordnete, sowie Schriftstücke, die über die Aufnahme und
den Abschluss des Verfahrens Auskunft geben. 11 Weil das
Aktenbüschel in einem noch nicht freigegebenen Repertorium
erfasst ist, wurden die Dokumente bislang nicht beachtet und
ausgewertet.
Ausgelöst wurden die Untersuchungen über den Ablauf der Deportationen von Juden in Stadt und Landkreis Göppingen durch einen Bericht "über die Evakuierung von Juden aus Franken 1941-1943", den die Special Projects Division der amerikanischen Kriegsverbrecher-Anklagebehörde in Nürnberg im November 1947 erstellt hatte. Im Raum Nürnberg, Fürth und Würzburg waren - so das Ergebnis der Untersuchungen - in sieben Transporten 4 754 jüdische Personen nach Osten deportiert worden. Die Ermittlungen führten zu einer Anklage und einem Prozess. Der Hauptangeklagte, Gestapochef Dr. Benno Martin, wurde trotz seines Leugnens und der Behauptung, er sei gar nicht der offizielle Gestapochef gewesen, im Mai 1949 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht stellte fest, es "hätte aber damals auch ein einfacher Mensch erkennen können, dass die vorgenommenen Judenevakuierungen eine grausame Maßnahme waren" 12 . Der Richter sah es als erwiesen an, dass der Hauptangeklagte diese Politik unterstützt hatte. Den in untergeordneten Positionen Beteiligten hielt das Gericht entlastend zugute, dass "ein Polizeibeamter im Nazireich … nicht ohne Gefährdung seines Lebens Befehle von oben verweigern" 13 konnte. Der Untersuchungsbericht aus Franken war in Abschriften den deutschen Justizbehörden in den drei Ländern der amerikanischen Zone zugegangen. Damit verbunden war der Auftrag, diesen Bericht für Ermittlungen im eigenen Bezirk, wo es zur Deportation von Juden gekommen war, heranzuziehen und festzustellen, in welchem Umfang diese stattgefunden hatten, wer an den Aktionen verantwortlich beteiligt war und wer von diesen verantwortlich Beteiligten noch für eine Verfolgung greifbar ist. 14
Das Justizministerium des Landes Württemberg-Baden wies mit Erlass vom 29. Januar 1948 die Staatsanwaltschaften Ulm und Heilbronn an, in ihrem Zuständigkeitsbereich die Verfolgung der Deportation von Juden "nach dem deutschen Strafgesetz zu prüfen und zu betreiben" 15 . Die Staatsanwaltschaft Ulm nahm unter der Bezeichnung "Anzeigensache gegen NN" ihre Arbeit auf. Wie aus einem handschriftlichen Vermerk ersichtlich ist, lud die Behörde am 9. März 1948 Kriminalpolizeibeamte aus Ulm, Geislingen und Göppingen zu einer Besprechung ein. Dabei wurde ein Fragenkatalog erstellt, an dem sich die Polizisten bei ihren Vernehmungen orientieren sollten. Er enthielt folgende Leitfragen:
Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, lebten in
Göppingen 334 Personen jüdischen Glaubens. Diese Zahl
veränderte sich durch Geburten und Sterbefälle, Umzug in
andere Gegenden Deutschlands, durch begrenzten Zuzug und nicht
zuletzt durch Emigration. Im Zeitraum 1933 bis 1942 verließen
233 Personen, zumeist die jüngeren, Göppingen, um im
Ausland eine neue Heimat zu finden. Die größte Zahl zog
es
in die USA und nach England, andere nach Südamerika, in die
Schweiz, nach Palästina und sogar nach China und Kuba.
100 Personen jüdischen Glaubens, die in Göppingen
blieben, wurden von ihrem Heimatort direkt bzw. über sog.
Jüdische Altersheime in die Konzentrations- und
Vernichtungslager deportiert, die meisten von ihnen bei den drei
großen Deportationswellen in Württemberg im
Spätjahr 1941 und im April und August des Jahres 1942. 91 von
ihnen sahen ihre Heimat nie wieder, nur neun hatten das Glück,
Lager und Haft zu überstehen.
Auch wenn Göppingen beim Machtantritt Hitlers keine Hochburg der Nazis war, blieben die in der Stadt lebenden Juden auch hier nicht von zunehmenden Diffamierungen und üblen Aktionen verschont. Einen ersten Vorgeschmack auf den Stil der neuen Zeit konnten die Juden in Deutschland am 1. April 1933 erleben, dem Tag des Boykotts der jüdischen Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte. Die auf die Schaufensterscheiben geklebte und auch in der Göppinger Tageszeitung propagierte Parole "Deutsche kaufen in deutschen Geschäften" hätte man als Blödsinn abtun können - schließlich waren ja auch die Geschäftsinhaber jüdischer Konfession deutsche Staatsbürger -, hätte ihre perfide Botschaft nicht schon in den Köpfen verfangen und die Trennung in Deutsche bzw. Arier und Juden gedanklich vorbereitet. Am Abend vor dem Boykotttag hatten Tausende Göppinger, die der "Kundgebung gegen die jüdische Greuelpropaganda" auf dem Schillerplatz beiwohnten, Kreisleiter Imanuel Baptist applaudiert, als dieser die Juden in fast allen Fällen als "Anstifter allen Unglücks" ausmachte und jedem Deutschen zu verstehen gab, "daß es eine Schande ist, in jüdischen Geschäften zu kaufen". Er drohte an, dass derjenige, der dies weiterhin tue, es dann verdiene, "aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen zu werden". 18 Im überregionalen NS-Kurier wurde die Durchführung des Boykotts in mehreren württembergischen Städten, darunter auch in Göppingen, als erfolgreich geschildert. In dem rückblickenden Bericht hieß es: "In Göppingen hat die von der NSDAP eingeleitete Boykottaktion um 10 Uhr eingesetzt, aber schon lange vorher füllten sich die Hauptverkehrsstraßen mit vielen Neugierigen aus der Stadt und der näheren Umgebung. Mit 10-Uhr-Schlag rückten starke SA- und SS-Abteilungen sowie Stahlhelm vor die jüdischen Geschäfte, stellten bewaffnete Posten auf und brachten Plakate an gut sichtbaren Stellen der boykottierten Geschäfte an. Wohlwert sowie andere größere jüdische Geschäftshäuser hatten ihre Verkaufsräume schon vor 10 Uhr geschlossen, während die anderen Geschäftsinhaber mit dem Einsetzen der Aktion zumachten. Auch das jüdische Hotel am Bahnhof weist sowohl am Hoteleingang wie auch am Metzgerladen Doppelposten auf. Die Kanzleieingänge eines jüdischen Rechtsanwalts in der Bahnhofstraße und die Hauseingänge der hier praktizierenden jüdischen Ärzte wurden durch Plakate kenntlich gemacht. Die ganzen Vorgänge fanden beim Publikum großes Interesse. Außer einigen Ansammlungen vor dem Wohlwert-Haus gleich nach Beginn der Aktion, die aber von der Polizei mühelos zerstreut wurden, waren keine Zwischenfälle zu verzeichnen." 19
Zu dieser antijüdischen Stimmungsmache passte es, dass ein Vierteljahr später, am 6. Juli 1933, der jüdische Fabrikant Leo Neuburger mit einem Strick um den Hals wie ein Stück Vieh durch die Straßen Göppingens gezogen wurde. Auf Rücken und Brust hatte man ihm ein Plakat mit der Aufschrift "Ich bin ein Rassenschänder" gehängt. 20 Zwei Jahre später, während des Reichsparteitags der NSDAP in Nürnberg im September 1935, wurden auf einer Sondersitzung des Reichstags zwei Gesetze verkündet, welche den Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben zementierten, sie herabwürdigten und zu Bürgern zweiter Klasse machten. Das so genannte "Reichsbürgergesetz" beendete die seit 1864 in Württemberg und seit 1871 in ganz Deutschland geltende staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden. Das neue Gesetz legte fest, dass nur Deutsche oder Bürger mit "artverwandtem Blut" Bürger des Reichs seien. Diese Definition führte zur Unterscheidung zwischen der vollgültigen Reichsbürgerschaft und der Staatsbürgerschaft für Juden. Letztere war eben alles andere als vollgültig - beispielsweise wurde Juden fortan das allgemeine Wahlrecht entzogen. Später nachgeschobene Durchführungsbestimmungen bewirkten die systematische Ausgrenzung und gesellschaftliche Isolierung der Juden. Das zweite Gesetz trug den Titel "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". Es untersagte Eheschließungen und außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen Juden und "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". Solche galten als "Rassenschande" und wurden mit Freiheitsstrafen belegt.21
Diese neuen Gesetze waren freilich nur anzuwenden, wenn Klarheit in der Frage herrschte, wer Jude ist. Schließlich blieb den Nazis nichts anderes übrig, als hierzu wiederum die Religion heranzuziehen. Wer "mindestens von drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern" abstammte, war Jude, lautete dann die Festlegung. Im Zeitraum zwischen dem Erlass der Nürnberger Gesetze und der Reichspogromnacht im November 1938 zielten verschiedene Verordnungen auf die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Von den Juden wurde beispielsweise verlangt, Vermögen über 5 000 RM anzumelden. Jüdische Ärzte und Rechtsanwälte erhielten Berufsverbot.
Im Oktober 1938 wurde etwa 18 000 Juden polnischer
Staatsangehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen. Die
Betroffenen durften nur das Notwendigste packen. Man brachte sie in
Zügen bis vor die polnische Staatsgrenze, um sie dann
über diese hinüberzutreiben. Als Polen daraufhin seine
Grenze schloss, kampierten die Vertriebenen unter elenden
Bedingungen im Niemandsland zwischen beiden Staaten. Diese
Abschiebeaktion führte schließlich zum Attentat Hershel
Grynszpans auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris.
Grynszpan war Jude polnischer Staatsangehörigkeit und seine in
Deutschland lebenden Eltern waren damals von der Abschiebung
betroffen. Vor diesem Hintergrund entschloss sich der junge Mann am
7. November 1938 zu dem Anschlag auf einen Repräsentanten des
Nazi-Reichs. Der von ihm schwer verletzte vom Rath verstarb am
Nachmittag des 9. November. Am
Abend desselben Tages versammelten sich wie jedes Jahr die
führenden Nationalsozialisten in München, um ihres
Putsches im Jahr 1923 zu gedenken. Der Tod des
Botschaftssekretärs war ein gelegen gekommener Anlass, gegen
jüdische Einrichtungen loszuschlagen und auch gegen
jüdische Bürger tätlich zu werden.
Propagandaminister Joseph Goebbels hielt dann nach Absprache mit
Hitler die bekannte Hetzrede, welche das Signal zu
"Aktionen" gegen Juden und zum Losschlagen gab. Die
Ausschreitungen dieser Nacht verzeichneten zahlreiche Tote, viele
zerstörte Synagogen und demolierte Geschäfte.
In Göppingen wurde von Geislinger SA-Leuten die Tür zur
Synagoge aufgebrochen und diese mit Stroh und Benzin in Brand
gesetzt. Anschließend wurden am Kaufhaus Georg Lendt in der
unteren Marktstraße die Schaufenster eingeschlagen und
Auslagen zerstört, am Hotel Dettelbacher beim Bahnhof der
Eingang und Teile der Gaststube zertrümmert. 22 Rudolf Moos,
der als Kaufmann bei der Filztuchfabrik Carl Veit beschäftigt
war, erlebte als einziger Gast die Zerstörungen an dem
"in Württemberg wohlbekannten jüdischen
Hotel" mit. 23
Die Bevölkerung stand der Zerstörungswut in dieser Nacht
eher distanziert gegenüber, vereinzelt gab es auch Proteste.
Der Göppinger Feuerwehrkommandant Karl Keuler, der vorsorglich
von der Meldelinie abgehängt und zunächst nicht alarmiert
worden war, verlangte das Eingreifen seiner Männer -
jedoch ohne Erfolg. Der Löschzug durfte nur das
Übergreifen der Flammen auf Nachbargebäude verhindern. Am
Brandort brachte Amtsgerichtsrat Gebhard Müller seine Abscheu
gegenüber der Tat zum Ausdruck. Für seine
Äußerung wurde er von einem SA-Mann mit der Pistole
bedroht. Anderntags verfasste er dann einen Bericht an die
Staatsanwaltschaft und erstattete vermutlich Anzeige wegen
Landfriedensbruch und Brandstiftung. Der Vorgang verlief im Sand.
Gebhard Müller - der spätere Staatspräsident
des Landes Württemberg- Baden und Präsident des
Bundesverfassungsgerichts - wurde auf Grund seiner
Intervention in ein anderes Referat nach Stuttgart versetzt. Karl
Keuler musste als Feuerwehrführer abdanken.
Der Historiker Peter Longerich stellt fest, dass mit der
"außerordentlichen Hemmungslosigkeit der
Gewaltanwendung" in der sog. Kristallnacht nicht nur ein
neues Stadium der "Judenpolitik" eingeleitet wurde,
sondern dass zugleich deutlich gemacht werden sollte, "dass
jeder, der sich öffentlich mit den geschundenen Juden
identifizierte, nicht nur mit Sanktionen rechnen musste, sondern
ebenfalls von Gewaltmaßnahmen bedroht war". …
"Mit dem November-Pogrom hatte das Regime durchgesetzt, dass
die deutschen Juden aus der öffentlichen Wahrnehmung …
weitgehend verschwanden." 24
In dieser denkwürdigen Novembernacht des Jahres 1938 kam es
aber auch zur Verhaftung der männlichen Juden im Alter von 16
bis 65 Jahren. Die hierfür benötigten Namens- und Adressenlisten lagen in Göppingen wie
andernorts schon bereit, schließlich musste die
Kriminalpolizei jede Veränderung bei Juden an das Landratsamt
weitermelden.
In der Pogromnacht 1938 wurden in Göppingen 34 jüdische
Männer verhaftet, mindestens 28 von ihnen festgehalten und
schließlich in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Es
handelte sich um folgende Personen: Erich und Stephan Banemann,
Eugen Bernheimer, Heinrich, Julius und Theodor Dörzbacher,
Lothar Dreyfuß, Julius Fleischer, Wilhelm Fleissig, Isidor
Fränkl, Hermann Freudenberger, Ernst und Julius Gutmann,
Rudolf Moos, Heinrich Netter, Leo Neuburger, Ludwig Oberdorfer,
Lothar und Simon Oppenheimer, Julius Regensburger, Moritz
Rosenthal, Arnold und Fritz Rosinberg, Heinrich Schiffmann, Max
Schwab, Albert Steiner, Julius Wassermann und Berthold Wertheimer.
25
Kreisleiter Imanuel Baptist machte bei seiner Vernehmung in der
Untersuchungshaft im Gefängnis Rastatt dazu folgende Aussage:
"Die Maßnahmen zu dieser Aktion wurden zwischen mir,
dem Landrat Nagel und vermutlich Polizeirat Hahn besprochen.
… Wir wurden uns danach einig, weil zu wenig Polizeibeamte
zur Verfügung standen, SA-Leute zur Unterstützung der
Polizei zur Verfügung zu stellen. Den Auftrag an die SA gab
ich weiter und veranlasste, dass genügend SA-Männer
bereit standen. Die Juden wurden dann aus ihren Wohnungen geholt
und entweder im alten Postamt (NSDAP-Gebäude), im Saal der
Kreisleitung oder im Polizeigebäude abgeliefert. Bei
Tagesanbruch wurden alle Juden zusammen in das jüdische Hotel
Dettelbacher am Bahnhof gebracht. Alle weiteren Maßnahmen
waren dann Sache der Polizei. Ich selbst habe die Gefängnisse,
in denen die Juden untergebracht waren, während der
Inhaftierung nicht betreten. … Mit weiteren
Judendeportationen hatte ich nichts zu tun. Nach dem Abtransport
der Juden, die auf Grund der Ereignisse bei der
Synagogenbrandstiftung festgenommen worden waren, bis zum Jahr 1940
fanden keine Evakuierungen mehr statt. Ich wurde dann im Jahre 1940
eingezogen und war bis zum 1. 7. 1944 bei der Wehrmacht."
26
Josef Herdeg, der vom 1. Oktober 1938 die Leitung der
Kriminalpolizei in Göppingen übernommen hatte, sagte
- abweichend zu Baptist - dazu aus, dass Beamte der
Schutz- und Kriminalpolizei auf Anordnung der Kreisleitung beim
Verhaften der Juden mitwirken mussten. Nach seiner Erinnerung
wurden die Männer meist im Polizeigefängnis und wegen
Platzmangel dann auch im Amtsgerichtsgefängnis inhaftiert. Auf
Weisung der Gestapo in Stuttgart habe er dann veranlasst, die Juden
in Omnibussen nach Dachau bringen zu lassen. Dort blieben sie 8 bis
14 Tage, aber auch 2 bis 3 Monate inhaftiert. An die Dauer der
Haftzeit konnte sich der Polizeistellenleiter exakt erinnern,
nachdem sich jeder in Dachau entlassene Jude bei der von ihm
geleiteten Dienststelle zurückmelden musste. Seine Aufgabe war
es dann, entsprechende Meldung an die Gestapo in Stuttgart zu
machen.
Ein Kriminalbeamter, der auf dienstlichen Befehl die
Überführung der Juden nach Dachau bewachen musste, gab
bei seiner Vorladung Folgendes zu Protokoll: "Die
betreffenden Juden wurden in zwei Omnibussen der hiesigen
Omnibusverkehrsgesellschaft Göppingen untergebracht. Die
Abfahrt erfolgte meiner Erinnerung nach an einem Samstag-Nachmittag
zwischen 3 und 4 Uhr. Der Transport nach Dachau ins KZ verlief
vollständig reibungslos und ohne Anstände. Bei unserem
Eintreffen im KZ Dachau im Innenhof erschienen sofort einige
SS-Leute. Ich verließ als erster den vordersten Omnibus und
bin nur dadurch einem tätlichen Angriff von Seiten der SS
entgangen, dass ich sofort beim Verlassen des Omnibusses mich als
Transportleiter auswies. Ein SS-Mann hat mich bereits an der Brust
gefasst und wollte mich vom Trittbrett des Omnibusses
herunterziehen, weil ich nicht schnell genug den Führersitz
verlassen hatte. Der Omnibusfahrer Reinhold Ott, der nach mir den
Omnibus verließ, wurde sofort tätlich angegriffen. Ein
SS-Mann schlug ihm mit der Faust gegen den Hinterkopf, dass seine
Mütze weit weg in den Hof hinein rollte. Als er sich zur Wehr
setzen wollte, wurde er von dem betreffenden SS-Mann mit dem
Seitengewehr bedroht. Nur durch mein sofortiges Dazwischentreten
schützte ich Ott vor weiteren Tätlichkeiten. Auch die
Juden, die aus dem Omnibus aussteigen mussten, erhielten
Schläge und Fußtritte von den SS-Leuten. Nachdem die
Juden dort ausgestiegen und mit den Transportpapieren
übergeben waren, verließen wir Dachau und fuhren nach
Göppingen zurück. Eine Einladung der SS zu einem
Kameradschaftsabend haben wir nicht angenommen." 27 Ein
Polizeibeamter, der zur Bewachung der Fahrgäste eingeteilt
war, erinnerte sich, dass auf der Fahrt nach Dachau in Geislingen
Halt gemacht wurde, um dort verhaftete Juden noch aufzunehmen.
Außerdem verwahrte er das Geld, das den
"Fahrgästen" abgenommen worden war. In Dachau
übergab er die Summe von einigen Tausend Mark einem
SS-Offizier. 28 Wie erging es den Häftlingen im KZ Dachau? Die
Fortsetzung der Geschichte in der Rolle des Betroffenen schilderte
Justin Heumann in einem 1966 in seiner neuen Heimat Caracas in
Venezuela verfassten Brief: "Abends kamen wir in Dachau an
und wurden von der SS mit Ohrfeigen und Schlägen empfangen.
Ich kam noch gut dabei weg. Anscheinend wurde ich mit dem Chauffeur
verwechselt, der dann die Schläge dafür bekam. Wie ich
später erfahren habe, wurde er dann beiseite genommen und
gedroht, daß es ihm schlecht gehe, wenn er davon
erzähle. Dann wurden wir aufgestellt in Reih und Glied und
alle Namen vorgelesen, mit Beruf. Die Kaufleute, Industriellen,
Viehhändler wurden Volksbetrüger genannt und geschlagen,
dann mußten wir wieder antreten und warten, bekamen nichts zu
essen, nichts zu trinken (es wurden immer wieder Neue
eingeliefert), so ging das bis circa 1, 2 Uhr nachts. Dann wurden
wir in einen Raum geleitet, der normalerweise vielleicht für
100 Personen ist. Wir waren circa 3 000 oder 4 000 Mann, wie
Sardinen in einer Büchse übereinander und untereinander
und ein Geschrei. Das war fast nicht mehr auszuhalten. Dann kam die
SS mit gezogener Pistole und sagte, wenn es jetzt keine Ruhe gibt,
werden wir mal in den Haufen hineinschießen. Dann allerdings
gab es Ruhe. Am nächsten Tag mußten wir wieder im
Hof antreten. Immer wieder ein Stückchen
vor und warten, warten, ohne zu essen und zu trinken, und ohne die
Notdurft zu verrichten, bis gegen Abend des nächsten Tages.
Dann gab es ein bißchen Tee und ein Stück
Kommißbrot, trocken und alt. Dann kam endlich die Reihe an
uns. Wir mußten uns nackt ausziehen, die Kleider und Schuhe
kamen zu einem Sack mit dem Namen und mußten dann in einen
anderen Raum, wo wir mit eiskaltem Wasser abgespritzt wurden. Dann
kamen wir in einen anderen Raum und wurden glattgeschoren wie
Zuchthäusler. Dann bekamen wir Zwillichkleider, gestreift, mit
dem Judenstern und wurden in Blocks eingeteilt, und zwar 400 Mann
in einen Block, wo wir dann in der Nacht schlafen mußten und
auch unsere Notdurft verrichten konnten, auch waschen, duschen usw.
Aber in der Nacht war es sehr kalt, denn es war Ende November,
Anfang Dezember. Morgens um 4 Uhr Appell, aufstehen, anziehen und
um 5 Uhr auf dem großen Platz vorn antreten. Dann
Stillstehen, und das wurde so lange wiederholt, bis es mehr oder
weniger militärisch perfekt war. … Fast jeden Tag wurde
der eine oder andere gerufen und zwar auf das Büro, wo ihm
dann nahegelegt wurde, sein Geschäft, seine Fabrik oder
sonstigen Eigentümer, wie Automobile, Häuser etc. zu
Schandpreisen an die Herren von der Nazi-Partei zu verkaufen, um
dadurch den Aufenthalt in Dachau etwas abzukürzen. Gut, ich
kam dann nach 6 Wochen Ferienaufenthalt in Dachau wieder nach
Hause, wo ich dann erfahren habe, daß unser Geschäft in
Göppingen von meinem Vater verkauft worden ist, damit ich
wieder nach Hause kommen durfte." 29 Herr Heumann lebte dann
"zur Zeit des Judensterns" - wie er sich
ausdrückt - nicht mehr in Deutschland. Er wanderte bald
nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager Dachau am 2.
Februar 1939 nach England aus. Seine Schwester Gretchen lebte schon
seit Oktober 1936 und sein Bruder Richard seit März 1938 in
New York. Sein Vater verstarb am 13. Februar 1939, sein Grab
befindet sich auf dem Göppinger Friedhof. Die allein lebende
Mutter übersiedelte dann im April 1940 nach San Domingo in den
USA.
Aus den Schilderungen von Justin Heumann wird deutlich, wie auf
die Juden Druck ausgeübt wurde, Deutschland zu verlassen.
Angesichts der Gewalttätigkeiten in der Reichskristallnacht,
der Malträtierungen im KZ Dachau, die natürlich den
Familienangehörigen nicht verborgen blieben, der nach dem
Pogrom verordneten Sühneleistung, welche die jüdische
Gemeinschaft in Deutschland zwang, 1 Milliarde Reichsmark
zusammenzulegen und dem Deutschen Reich zu übergeben, sowie
der diskriminierenden Gesetze, welche die Arisierung und
Liquidierung jüdischer Betriebe zum Ziel hatten, mag vor allem
den Jüngeren die Entscheidung leicht gefallen sein,
Göppingen für immer den Rücken zu kehren. Allein in
den Jahren 1938 und 1939 wanderten 143 Juden aus. Dies war mehr als
die Hälfte derer, die von Beginn der Naziherrschaft bis 1942
Göppingen für immer verließen. Die Dagebliebenen
erwartete eine fortschreitende Entrechtung. Im April 1939 wurde
beispielsweise der Mieterschutz für Juden aufgehoben. Am 23.
September 1939 (es war ein hoher jüdischer Feiertag), mussten
die Juden ihre Rundfunkgeräte abliefern - die im Göppinger Polizeiamt gesammelten
Geräte wurden der SS-Schule in Ellwangen/Jagst
übereignet. 30 Nach Kriegsbeginn waren
die Ausgangszeiten für Juden auf die Tagesstunden begrenzt.
Als schließlich im September 1941 allen über
sechsjährigen Juden vorgeschrieben wurde, in der
Öffentlichkeit gut sichtbar an der Kleidung den Gelben Stern
mit der Aufschrift "Jude" zu tragen, war die klein
gewordene Gruppe ganz auf das Leben innerhalb ihrer Gemeinschaft
verwiesen. In Göppingen hatte sich - erst recht nach der
Zerstörung der Synagoge - das Hotel Dettelbacher am
Bahnhof zu einem wichtigen jüdischen Treffpunkt und Ort
geselligen und kulturellen Lebens entwickelt.
Im Sommer 1941 kam es bei den Nationalsozialisten zu einer Wende in der Judenpolitik, welche nicht mehr auf Vertreibung ins Ausland, sondern auf die Vernichtung der Juden setzte. Die noch 1940 diskutierten Pläne, die Juden in ein "Reservat" nach Polen abzuschieben bzw. sie nach Madagaskar zu verfrachten, wurden - auch in Folge der Entwicklung des Kriegs - Ende desselben Jahres fallen gelassen. Für die Entscheidung zum Massenmord hatte es bereits einen "Probelauf" gegeben. Das Euthanasie-Programm, von Hitler in einem auf den 1. September 1939 - dem Tag des Kriegsbeginns - datierten Schreiben in Gang gesetzt, hatte zur systematischen Ermordung von Anstaltsinsassen und unheilbar Kranken geführt. Auch hiervon war Göppingen betroffen. Mindestens 168 Pfleglinge der Privatanstalt Christophsbad wurden über eine staatliche Pflegeanstalt nach Grafeneck bei Münsingen und nach Hadamar gebracht und dort vergast. 31 Allein in Grafeneck wurden rund 10 000 Patienten in den Tod geschickt. Unter ihnen war der Göppinger Jude Robert Einstein, dessen Sterbeurkunde auf den 4. Dezember 1940 ausgestellt wurde. Die enge Verbindung von Euthanasie-Programm und sog. "Endlösung der Judenfrage" ist auch dadurch belegt, dass z. B. das "Sonderkommando Lange", das bis zum Sommer 1941 Anstaltspatienten im "Warthegau" mit Hilfe von Gaswagen ermordete, ab Dezember 1941 im Lager Chelmno zur Ermordung von Juden eingesetzt wurde. Während Hitler die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch ein von ihm unterschriebenes Ermächtigungsschreiben in Gang gesetzt hatte, gab er zur Ermordung der europäischen Juden keinen eindeutigen schriftlichen Führer-Befehl. Peter Longerich führt dies auf die Erfahrungen mit dem Euthanasie-Programm zurück, das sich nicht geheim halten ließ und sogar starken Unmut und Widerspruch in der Bevölkerung heraufbeschwor. Dass die Deportation und systematische Tötung der Juden dennoch in Gang kam, erklärt Longerich so: "Zwei Jahre Krieg und Massenmord hatten jedoch dazu geführt, dass die Verantwortlichen sich sicher genug fühlten, um die Ermordung der Juden auch ohne eine formelle Absicherung durch die höchste Autorität im ‚Dritten Reich’ durchzuführen." 32 Die Maßnahmen zur "Umsiedlungsaktion" der Juden in den Osten wurden im Spätjahr 1941 konkret: Am 18. November 1941 verschickte die Gestapo/Staatspolizeileitstelle Stuttgart auf Grund einer Anordnung des Reichssicherheitshauptamts an die Landräte und Polizeidirektoren einen Erlass betr. "Abschiebung von Juden". Das Papier trug den Vermerk "Eilt sehr" und setzte die Empfänger darüber in Kenntnis, dass am 1. Dezember 1941 von Stuttgart ein Transport von 1000 Juden ins "Reichskommissariat Ostland" gehen sollte. Die zu "evakuierenden" Juden aus den einzelnen Gemeinden und Städten sollten sich deshalb ab dem 27. November in einem Durchgangslager auf dem Killesberg in Stuttgart einfinden. Exakt war bestimmt, was jede Person mit sich führen durfte, nämlich:
In die Listen des Finanzamts wurde jeder konfiszierte
Wertgegenstand mit dem Namen des Eigentümers eingetragen. Nach
Abschluss der Durchsuchung wurde das Protokoll von einem
Kriminalbeamten und dem Finanzbeamten unterzeichnet. Die
Wertgegenstände wurden dann an den Stadtinventierer
weitergegeben, der alles zu einem späteren Zeitpunkt mit
anderem beweglichen Mobiliar aus den Wohnungen der deportierten
Juden versteigerte. Der Erlös wurde auf eine Kontokarte
gutgeschrieben, die man für jede deportierte Person angelegt
hatte.
Bereits vor dem Gang zur Schillerschule war den auf der
Deportationsliste stehenden Personen ein umfangreiches Formular zur
Vermögenserklärung zugegangen. Sie mussten es
ausgefüllt dem Finanzamt übergeben, das stichprobenweise
die Angaben überprüfte. Auf dem Dokument waren
Möbel, Schmuck, Geschirr, Wäsche, Kleidung, Bargeld,
Wertpapiere, Guthaben und Vermögensanteile einzutragen. Mit
dem Verlassen der Wohnung ging die Schlüsselgewalt an das
Finanzamt über. Der Göppinger Finanzbeamte Brodhag
schildert die Aufgabe, die dann auf ihn zukam: "Die
verlassenen Wohnungen der Juden wurden uns (d. h. dem Finanzamt)
von der Kriminalpolizei übergeben. In einem Falle war ich mit
einem Kriminalbeamten - Kriminal- Sekretär Seebold
- in der Wohnung des Juden Rosinberg und Geschmay. Bei
unserem Eintreffen wurden die Juden von dem Kriminalbeamten
aufgefordert, ihre Wohnung zu verlassen und sich in der
Schillerschule zu melden. Das Wohnungsinventar wurde dann von mir
aufgenommen und nachdem dies geschehen war, wurde die Wohnung von
dem Kriminalbeamten abgeschlossen, der mir dann den Schlüssel
übergab. Alle anderen Wohnräume, aus denen die Juden
schon ausgezogen waren, wurden uns von der Kriminalpolizei
abgeschlossen mit Überreichung der Schlüssel
übergeben. Von diesen Wohnungen haben wir dann
nachträglich eine Bestandsaufnahme gemacht. Wegen der
bestehenden Wohnungsnot wurden im Einvernehmen mit dem Wohnungsamt
Göppingen die Wohnungen geräumt und die Möbel in der
Sauerbrunnenkaserne hier untergestellt." 36 Die eingezogenen
Wertgegenstände, Kleidungsstücke und Möbel wurden
von der Finanzbehörde entsprechend vorliegender Anweisungen in
neue Eigentümerhände gebracht. Der Finanzbeamte Alfred
Lorenz schilderte bei seiner Vernehmung die dazu erforderlichen
Maßnahmen, die in seinen Aufgabenbereich fielen:
"Geldkonten, die die evakuierten Juden besaßen, wurden
geschlossen und der Betrag auf das Konto der Finanzkasse
überwiesen. Wertpapiere, die sich in Bankdepots befanden,
wurden auf Anweisung des Finanzamts von den Banken an die
Kreishauptbankstelle für Wertpapiere nach Berlin
überwiesen. Alle diese Maßnahmen erfolgten auf Grund
ausdrücklicher Anweisung der vorgesetzten Dienststelle. Auf
Grund gleicher Anweisung wurden Wert- und Silbersachen an die
Scheideanstalt Berlin gesandt. Nähmaschinen gingen an den
Oberbürgermeister von Litzmannstadt. 37
Betten und Bettwäsche an verschiedene zu
Lazaretten eingerichteten Reichsfinanzschulen. Kleidungsstücke und sonstige Textilien gingen, soweit sie
nicht an Fliegergeschädigte abgegeben wurden, in die
Spinnstoffsammlung. Auch ein großer Teil der Möbel
wurden an Fliegergeschädigte zu den Taxpreisen abgegeben. Ein
Teil dieser Fliegergeschädigten kamen direkt aus Stuttgart, wo
sie bei der vorgesetzten Dienststelle um Überlassung von
solchen Einrichtungsgegenständen vorstellig geworden
waren." Möbel, Hausgerät und
Wäschestücke, die jetzt noch keine Interessenten oder
neuen Besitzer gefunden hatten, wurden schließlich
versteigert. Auf die Auktion im früheren Göppinger
Zweigwerk der WMF in der Sauerbrunnenstraße wies eine Anzeige
in der Göppinger Tageszeitung hin.
Stadtinventierer Otto Hinderberger, der auch amtlicher
Versteigerer war, konnte bei seiner Vernehmung im Jahr 1948
exakteste Angaben über die Erlöse dieser und einer
weiteren Auktion machen. Er gab zu Protokoll: "Im Jahr 1942
und zwar vom 21.1. bis zum 2. 2. 1942, musste ich im Auftrag des
Finanzamtes Göppingen eine Versteigerung von beschlagnahmten
Einrichtungsgegenständen, die im Besitz von Juden waren,
durchführen. Bei dieser Versteigerung wurde der Gesamtbetrag
von 21125,10 RM erzielt. Abzüglich einer 1 1 / 2 %igen Provision für mich, welche
316,70 RM betragen hat, wurde der Gesamtbetrag der Finanzkasse
Göppingen überwiesen bzw. wurde bei der Versteigerung von
einem Finanzbeamten gleich eingezogen. Die nächste im Auftrag
des Finanzamtes Göppingen durchgeführte Versteigerung
fand im Jahre 1943 ebenfalls in den Räumen der früheren
Sauerbrunnenkaserne (WMF) statt. Bei dieser Versteigerung wurden 6
429,90 RM erzielt, die ebenfalls abzüglich einer 2%igen
Provision dem Finanzamt Göppingen überwiesen wurden. Der
Gesamtbetrag der Versteigerungen, die im Auftrag des Finanzamts
Göppingen durchgeführt wurden, beläuft sich demnach
auf 27 555,- RM. Als Gesamtprovision erhielt ich den Betrag
von 445,30 RM, der von der Gesamtsumme abgezogen wurde."
38 In den Jahren
1942 und 1943 wurden auch Immobilien von deportierten Juden
beschlagnahmt und auf Antrag des Finanzamts das Deutsche Reich als
neuer Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Bezirksnotar Anton
Straubinger, der diese Besitzumschreibungen vornahm, konnte darin
im Rückblick nichts Unrechtes erkennen, da die Eintragungen den gültigen
Grundbuchvorschriften entsprachen. Die
Beschlagnahmeverfügungen der Gestapo, also die Grundlage der
Besitzumschreibung, durfte er - wie er bei seiner Vernehmung
betonte - in seiner Zuständigkeit nicht prüfen.
Als die Juden in der Schillerschule noch auf ihre Abreise warteten, waren schon alle rechtlichen Weichen zu ihrer Enteignung, an der sie auf perfide Weise selbst beim Ausfüllen exakter Listen mitwirken durften, bereits gestellt. Bei der Fahrt in den Osten verloren sie mit dem Überschreiten der Reichsgrenze ihr gesamtes Hab und Gut. Es ging in den Besitz des Deutschen Reiches über.
Von der ersten Deportation waren in Göppingen mindestens 40 Juden betroffen: Das Ehepaar Hedwig und Stephan Banemann mit den Kindern Inge und Erich, Lothar Dreyfuß, Irma und Julius Fleischer mit dem Sohn Richard, Wilhelm Fleissig, Isidor und Mina Thekla Fränkl, Flora Frank, Rosa Frank, Felicia Heimann, Elsa Hirsch, Jenny Hirschhahn, Johanna Katz, Wilhelm Katz mit den Kindern Rosa und Gerhard, Esther Kuttner, Betty Lauchheimer, Elsbeth und Ludwig Oberdorfer mit Sohn Franz Sepp, Julius Regensburger, Doris und Liese Rödelsheimer, Fritz und Irma Rosinberg mit den Kindern Arnold und Heinz, Lotte Sinn, Erna und Leo Stern mit den Kindern Herbert Ludwig und Hilde Berta sowie Paula Zitter mit den Töchtern Rosa und Sara.
Nach der
Leibesvisitation und der Durchsuchung Ihres Gepäcks mussten
die genannten Personen die Nacht noch im Turnsaal der
Schillerschule verbringen. Am 28. November 1941 wurden sie dann von
Beamten der Kriminal- und Schutzpolizei zum Bahnhof geleitet.
Transportführer war Kriminal-Sekretär Albert Seebold, der
die Übergabe der Juden in Stuttgart abzuwickeln hatte, deren
Ablauf er beim Verhör 1948 wie folgt schilderte: "In Stuttgart musste ich dann
meinen Transport auf dem Bahnsteig antreten lassen und ich habe die
Liste, die ich von Göppingen mitgebracht und auf der die Juden
namentlich erfasst wurden, einem Beamten in Zivil, der meiner
Meinung nach der Kriminalpolizei Stuttgart angehören musste,
übergeben. Die Juden wurden dann im Hauptbahnhof in einem Raum
untergebracht. Dort wurden sie nochmals registriert und
anschließend wurden sie zum Killesberg verbracht. Der
Transport vom Stuttgarter Hauptbahnhof zum Killesberg oblag nicht
mir und den mir mitgegebenen Polizeibeamten. Ich bin aber trotzdem
mit den Polizeibeamten mitgefahren, um zu sehen, wohin die Juden,
die ich ja alle persönlich kannte, kamen. Auf dem Killesberg
wurden sie von einem SS-Mann in Empfang genommen. Was weiter mit
ihnen geschehen ist, kann ich nicht sagen. Ich kann heute nicht
mehr genau sagen, ob mir die richtige Übernahme des Transports
durch die Beamten von Stuttgart irgendwie bescheinigt wurde,
wahrscheinlich wird dies aber der Fall gewesen 39
Im Hauptgebäude des Gartenschaugeländes auf dem
Killesberg trafen am 27. und 28. November 1941 aus ganz
Württemberg jüdische Frauen und Männer ein. Das
Durchgangslager war in keiner Weise auf eine solche Aufgabe
vorbereitet. Auch hier gab es noch wichtige Formalitäten zu
erledigen. Die Juden mussten die Beschlagnahme ihres Vermögens
quittieren und hierfür eine Zustellgebühr von 1,15 RM
bezahlen. Außerdem waren noch die Kosten für die
unfreiwillige Fahrt nach Osten in Höhe von 57,65 RM zu
entrichten.
Am Morgen des 1. Dezember 1941 verließ der erste
Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof. In einem der Waggons
saß der damals 14-jährige Richard Fleischer, der als
einziger aus der Göppinger Gruppe überleben sollte. Bei
seinem Besuch im Jahr 1984 in Göppingen, als er einer von der
Stadt ausgesprochenen Einladung ehemaliger jüdischer
Bürger folgte, übergab er die Kopie eines Briefs, dessen
Zeilen deutlich machen, dass schon die Fahrt von Tod und Gewalt
begleitet war. Die Erinnerungen hatte er nach seiner Befreiung aus
dem KZ im Jahr 1945 niedergeschrieben; sie waren für seinen
Vetter bestimmt. Richard Fleischer schildert u. a. die Fahrt im
Eisenbahnwaggon von Stuttgart nach Riga: "Nachts um 4 Uhr
wurden wir am Nordbahnhof einwaggoniert und fuhren drei Tage und
vier Nächte in ungeheizten Wagen nach Riga. Unterwegs bekamen
wir nur zweimal Wasser. Halb verdurstet kamen wir an. Beim Ausladen
wurden wir wie das Vieh mit Stockschlägen und Geschrei
ausgeladen. Auf dem Glatteis blieben viele Leute zurück und
wurden erschossen. In zehn Minuten hatten wir 28 Tote. Wir hatten
gleich den richtigen Eindruck. Vor Durst aßen wir Eis und
Schnee. Wir wurden in ein paar alte Scheunen und Schafställe
getrieben, kurz und gut wir blieben dort. Im Eis und Schnee blieben
wir dort bis Ende März. In unserer Baracke starben jeden Tag
18 bis 25 Männer, welche über Nacht erfroren. Es starben
noch viele an Typhus, Ruhr und Erfrierungen." 40
Am Ende aller Vernehmungen musste die Kriminalpolizei ein wertendes
Fazit aus ihren Untersuchungen ziehen. Der Schlussbericht beginnt
mit folgender Einschätzung: "In allen Fällen
handelt es sich bei dem Abschub der Juden aus dem Kreis Göppingen um Deportationen. Dies ging klar auf Grund der
Vorgänge und Zeugenaussagen hervor, dass es sich bei diesen
Maßnahmen um reine Zwangsverschleppungen handelte. Die
Abschiedsszenen und die vielen Tränen, die von den alten
Juden, als Betroffene, bei Bekanntwerden ihrer Verschubung
vergossen wurden, zeugen dafür, dass sie nicht
‚freudigen Herzens’ dem Ruf gefolgt sind, sondern nur
einem unwiderstehlichen Zwang sich unterordneten und ihr Hab und
Gut in Stich lassen mussten, um einem ungewissen Schicksal entgegen
zu gehen, das sie im Grunde genommen bereits ahnten und ihnen aus
vorherigen Erfahrungen nichts Gutes verheißen konnte.
Inwieweit die Überführung der Juden von Stuttgart nach
Weißenstein als Vorbereitungsmaßnahmen für die
bessere Erfassung und Deportierung der Juden nach dem Osten gelten
konnte, ist nicht bekannt. Jedenfalls war hierbei schon ein
wesentlicher Mitzweck, sich der durch die Juden in Stuttgart
freigewordenen Wohnungen zu bemächtigen und in diese
Angehörige der kriegswichtigen Hirth-Motoren- Werke
einzuweisen. Schon damals gingen die Juden nicht freiwillig,
sondern folgten dem Auftrag der von ihnen so gefürchteten
Gestapo-Leitstelle in Stuttgart. Es bedarf keines Hinweises, dass
die Juden nicht etwa aus Gründen der Evakuierung aus
Kampfgebieten oder wegen drohender Fliegergefahr nach dem ruhigen
Ort Weißenstein abgeschoben wurden, sondern es kann diese
Maßnahme damals bereits als erster Schritt für die
‚Endlösung‘ in der Judenfrage überhaupt
angesehen werden, indem sie die Juden erst einmal konzentriert
zusammenschoben und von der übrigen Welt absonderten."
57 Eigens zum
Wohnheim Schloss Weißenstein wird festgestellt, dass dieses
"nicht als ein gewöhnliches Altersheim bezeichnet werden
kann" - schon allein deshalb, weil den Bewohnern
weitgehend jede Freiheit entzogen war. Der Schlussteil des Berichts
stellt die Frage, inwieweit sich die Akteure der Reichweite ihres
Handelns bewusst waren und inwieweit sie die Möglichkeit
gehabt hätten, andere Entscheidungen zu treffen bzw. des
Mittuns sich zu enthalten. Die Zahl der an der Deportation vor Ort
beteiligten war groß. Dazu gehörten auf allen
Hierarchieebenen Beamte des Landratsamts, der
Bürgermeisterämter, der Kriminal- und Schutzpolizei,
Finanzbeamte, aber auch Hausmeister und Putzfrauen, die eher
zufällig in das Geschehen hineingerieten. Jeder der
Beteiligten hatte am großen Räderwerk nur ein kleines
Teilchen in seinem Bereich zu bewegen - und er tat dies
gemäß seiner Beamtenpflicht, den Gesetzen oder den
Anordnungen der gefürchteten Gestapo. Es gab bei der
Durchführung der Deportationen keinen sofort erkennbar
Hauptschuldigen, so dass die Staatsanwaltschaft Ulm ihre
Ermittlungen "gegen NN" führte.
Liest man die Vernehmungsprotokolle, so hat man fast nie den
Eindruck, es werde etwas bewusst verschwiegen oder gezielt gelogen.
Die Aussagen sind im Vergleich zu den kurz zuvor eingeleiteten
Untersuchung über die Gewalttaten in der Reichspogromnacht
geradezu informativ. Man sah im eigenen Handeln im kleinen Bereich
nichts Verwerfliches, schon gar nicht erkannte man das Mitwirken an
einer großen verbrecherischen Tat, an dem Massenmord an den
Juden.
Die zumeist am Schluss einer Vernehmung gemachten Aussagen sind dafür typisch.
Sie lauten beispielsweise: die Aufgabe wurde ohne besondere
Vorkommnisse erledigt, alles wurde ordnungs- und
pflichtgemäß durchgeführt, meine Aufgabe bestand
lediglich darin, etc. Die in höherer Position stehenden Beamten,
Oberbürgermeister Dr. Pack und Polizeirat Hahn, weisen jegliche
Beteiligung oder Kenntnis der Vorgänge kühl von sich, indem
sie auf den ihnen bekannten Dienstweg verweisen. Dr. Pack stellt dabei
aus seiner Sicht knapp wie erschöpfend fest, dass beim
Bürgermeisteramt nie ein Erlass eingegangen sei, dass die Juden
deportiert werden müssten. 58 Auch Polizeirat Hahn sagt
zur Sache befragt: "Ich selbst habe mit den Judendeportationen
überhaupt nichts zu tun gehabt." Aus seiner Sicht war
dafür die Kriminalpolizei zuständig, die selbstständig
handelte und der gegenüber er nur eine allgemeine Dienstaufsicht
besaß. Und zynisch gab er noch zu Protokoll:
"Bezüglich dieser Deportation im November 1941, von der ich
allein weiß, muss ich noch anfügen, dass sie von der
jüdischen Kultusvereinigung auf Grund der Gestapo-Befehle
selbständig durchgeführt wurde, und zwar nicht nur in
Göppingen, sondern im ganzen Kreis." 53
Wenn man davon ausgeht, dass in den Jahren 1941 und 1942, als die
Deportationen anliefen, nur wenige über die tatsächlichen
Pläne zur Vernichtung der Juden Bescheid wussten, überrascht
doch, dass drei Jahre nach Kriegsende der Wissensstand eher gering
ist. Allein schon die fast ausschließlich unreflektierte
Weiterverwendung der Nazi-Terminologie "Evakuierung",
"Umsiedlung", "Abwanderung" oder
"Verschubung" zeigt an, wie wenig die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit aufgenommen worden war. Auf die Frage, wohin die
Juden deportiert wurden, wird meist mit "war mir nicht
bekannt" geantwortet. Lediglich der Aussage des Leiters des
Geislinger Finanzamts ist zu entnehmen, dass er 1942 wusste, dass der
Deportationszug nach Theresienstadt fuhr. Anderen Personen, die auf
Grund ihrer amtlichen Stellung einen größeren Einblick in
die Ereignisse hatten, mag man die Unwissenheit nicht immer glauben.
Landrat Nagel musste zwar zugeben, dass er bei einer
Landräteversammlung bereits im Vorfeld der ersten Deportation im
November 1941 über die "Evakuierung der Juden nach
Osten" in Kenntnis gesetzt worden war, aber er beteuerte, bis
Kriegsende nicht an eine Liquidierung der Juden gedacht oder gar davon
gewusst zu haben.
Anlass zu Argwohn gab es jedenfalls zuhauf: Den Juden wurde ihr Hab
und Gut abgenommen und dann öffentlich versteigert. Die frei
gewordenen Wohnungen bezogen andere. Auf dem Einwohnermeldeamt wurde
auf den Meldekarten unter der Rubrik "Verzogen nach"
anders als je zuvor auf Anordnung "nach unbekannt" oder
"unbekannt verzogen" eingetragen. Und von den Deportierten
wurde bis Kriegsende nie mehr jemand lebend gesehen.
Am 17. Juni 1949 übersandte der Generalstaatsanwalt dem
Justizministerium in Stuttgart seinen abschließenden Bericht.
Die Staatsanwaltschaft Ulm hatte 442 Personen ermittelt, die aus Stadt
und Kreis Ulm sowie aus Stadt und Kreis Göppingen in drei
Deportationen im November 1941, im April 1942 und im August 1942 in
die Lager im Osten verschleppt worden waren. Der Laufweg des Befehls
zur Deportation und die dabei beteiligten Stellen und Personen konnten weitgehend
ermittelt werden. Die Untersuchung der Deportation der in der Stadt
Göppingen lebenden Juden führte zu der Feststellung:
"Die Ermittlungen haben keine Anhaltspunkte dafür ergeben,
dass sich einer der Beteiligten strafbar gemacht hätte. Auch
gehört keiner der Beteiligten zu dem Personenkreis, der nach den
Richtlinien zu verfolgen wäre." 60 Bezüglich der
Ermittlungen zu den Deportationen im Kreis Göppingen stellte der
Generalstaatsanwalt fest, dass allenfalls eine juristische Verfolgung
des Landrats Nagel und des Gendarmerieführers Rall in Frage
kommen könnte. Strafbar hätten sich beide aber nur dann
gemacht, wenn sie vorsätzlich und im Bewusstsein, dass ihr Tun
unrecht ist, gehandelt hätten. Die Staatsanwaltschaft wollte von
der Erhebung einer Anklage absehen, weil beiden nicht widerlegt werden
könne, dass sie an eine "ordnungsgemäße
Umsiedlung" glaubten. 61 >Am 2. Juli 1949 teilte
das Justizministeriumder Staatsanwaltschaft Ulm mit: "Den in
ihrem Bericht zum Ausdruck gebrachtenAuffassungen und Absichten wird
zugestimmt." 62
Aus der Veranstaltungsreihe
"Dialog im Museum"
im Jüdischen Museum Göppingen
Konrad Plieninger
"Ach es ist alles ohne Ufer …"
Briefe aus dem Warschauer Ghetto
Göppingen 1996. Selbstverlag
39 Seiten mit Abbildungen
ISBN 3-933844-24-X
Gerhard Werle, Thomas Wandres
Auschwitz vor Gericht. Das Urteil gegen Dr. Victor Capesius
Göppingen 1997. Selbstverlag
40 Seiten mit Abbildungen
ISBN 3-933844-25-8
Thomas Stöckle
Die "Aktion T4". Die "Vernichtung lebensunwerten
Lebens" in den Jahren 1940/41 und die Heilanstalt
Christophsbad in Göppingen
Göppingen 1998.
Selbstverlag
43 Seiten mit Abbildungen
ISBN 3-933844-27-4
Karl-Heinz Rueß
"Was in Paris geschah, das habt ihr zu büßen!" Die
Reichspogromnacht in Göppingen
Göppingen 1998.
Selbstverlag
51 Seiten mit Abbildungen
ISBN 3-933844-28-2
Karl Heinz Burmeister
Der Schwarze Tod. Die Judenverfolgungen
anlässlich der Pest von
1348/49
Göppingen 1999.
Selbstverlag
ISBN 3-933844-29-0
Stefan Rohrbacher
Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit.
Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19.
Jahrhundert
Göppingen 2000.
Selbstverlag
42 Seiten mit Abbildungen
ISBN 3-933844-33-9
Karl-Heinz Rueß
Spuren schreiben Vergangenheit.
Stätten jüdischer Geschichte und Erinnerung in
Jebenhausen und Göppingen
Göppingen 2001.
Selbstverlag 35 Seiten mit Abbildungen und 2 Karten
ISBN 3-933844-35-5
Die Herausgabe dieser Veröffentlichung ermöglichte ein Zuschuss der Landeszentale für politische Bildung Baden-Württemberg
Umschlag
Tor zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Bildnachweis
Panstwowe muzeum, Auschwitz Umschlag (veröffentlicht in:
Gerhard Schoenberner: Der Gelbe Stern.
Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945. Hamburg 1960, S.
141)
Jüdisches Museum Göppingen S. 21, 26, 27
Kreisarchiv Göppingen S. 35
StadtarchivGöppingen S. 11, 12, 18, 23
Stadtarchiv Stuttgart S. 24
© 2001 Verfasser und Stadt Göppingen
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Kurt Ranger Design, Stuttgart
Gesamtherstellung:
Bechtel Druck GmbH, Ebersbach an der Fils
ISBN 3-933844-38-X