Die Reichspogromnacht in Göppingen

Karl-Heinz Rueß

Vorwort

Weil in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 bei vielen tausenden jüdischer Geschäfte die Schaufensterscheiben zersplitterten und die Auslagen zertrümmert wurden, erhielt vermutlich das Geschehen im Volksmund die Bezeichnung "Reichskristallnacht". Die Herkunft des Begriffs ist nicht geklärt, in jedem Fall ist er verharmlosend. Denn viele Jahrhunderte lang hatte es in Europa keine Verfolgungen von Juden in diesem Ausmaß gegeben. Und dabei waren die Pogrome - entgegen der propagandistischen Darstellung - kühl geplant und von Parteigliederungen und staatlichen Instanzen durchgeführt. Die "Reichskristallnacht" - so das Urteil des Historikers Wolfgang Benz - "bildete den Scheitelpunkt des Wegs zur ‘Endlösung‘: Die physische Vernichtung der Judenheit war als Ende dieses Wegs, als Ziel der nationalsozialistischen Herrschaft sichtbar geworden." Die vorliegende Veröffentlichung beschreibt den Ablauf der Pogromnacht in Göppingen und blickt auf deren Folgen - bis hin zur Frage des Gedenkens und Erinnerns in jüngster Zeit. Die in der Broschüre veröffentlichten Bilder von der zerstörten Synagoge, die im Lauf des 10. Novembers entstanden, hat vor zehn Jahren Erwin Tänzer - zusammen mit vielen anderen Zeugnissen jüdischer Geschichte und zum Wirken seines Vaters, des Rabbiners Dr. Aron Tänzer - dankenswerterweise dem Stadtarchiv übergeben. Für die vielfach erfahrene Unterstützung möchten wir herzlich danken. Ebenso danken möchten wir dem Referat Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, das die Drucklegung dieser Publikation mit einem Zuschuß fördert. Und nicht zuletzt gilt unser Dank und Anerkennung dem Hohenstaufen-Gymnasium und allen Beteiligten an der Kinderoper Brundibár, die am 10. März 1998 im Großen Saal der Stadthalle Göppingen aufgeführt wurde. Die Mitwirkenden spendeten den Erlös aus dem Verkauf des Programmhefts für die Arbeit des Jüdischen Museums. Die Spende wurde zur Herausgabe dieser Veröffentlichung verwendet.

Jüdisches Museum Göppingen

Die Synagoge mit dem kleinen Park, gesehen von der Kreuzung Burgstraße/Freihofstraße. Aufnahme um 1900.Aussage eines ehemaligen SA-Mannes vor Gericht, der als einziger im Kreis der Angeklagten die Tat gestand."Ich habe mich seinerzeit mit meinen übrigen Kameraden in der Absicht nach Göppingen begeben, um befehlsgemäß an der Brandstiftung der Göppinger Synagoge mitzuwirken, d. h. sie sogar unter Umständen selbst in Brand zustecken. - Ich bin der festen Ansicht, daß die anderen, die sich in meiner Begleitung befanden, genauso gehandelt hätten. Denn der Zweck der Fahrt nach Göppingen war: Die Synagoge in Brand zu stecken und sie durch Feuer zu vernichten."

"Daß man Gotteshäuser nicht anzünden und fremdes Eigentum nicht beschädigen darf, sind so fundamentale Grundsätze des Zusammenlebens im staatlichenVerband, daß an Ihnen schlechthin kein Zweifel sein kann; diese Grundsätze sind Allgemeingut und waren auch den Angeklagten bekannt."

Aus der Begründung des Urteils der Großen Strafkammer des Landgerichts Ulm, die im Juni 1949 den Prozeß gegen die Synagogen-Brandstifter abschloß.

Vorgeschichte(n)

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Deutschland rund 400 Synagogen in Brand gesteckt, über 7000 jüdische Geschäfte zerstört, nach offiziellen Angaben 91 Menschen erschlagen und ermordet und etwa 26 000 jüdische Männer und Jugendliche in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Die nationalsozialistischen Machthaber hatten versucht, diese verbrecherischen Taten als die Folge einer spontanen Entzündung des "Volkszorns" darzustellen. Aber - so mag man sich fragen - wer von den zumindest aufmerksameren Zeitgenossen hätte dies glauben wollen? Es hätte schon seltsam zugehen müssen, wenn zu einem fast gleichen Zeitpunkt in ganz Deutschland ähnlich geartete Gewalttaten gegen die Gotteshäuser der jüdischen Gemeinden und gegen Geschäfte und Läden, die Juden gehörten, geschehen wären - Gewalttaten, die nicht polizeilich verfolgt wurden und bei denen für die angerichteten Schäden die Betroffenen überdies noch selbst aufkommen mußten.

Dieser Aufsatz lenkt den Blick auf die lokalen Ereignisse in Göppingen. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: In welchem politischen Umfeld und Klima geschahen die Pogrome, wie wurde die verbrecherische Tat in Göppingen auf dem Befehlswege in Gang gebracht und wie wurde sie ausgeführt, wer waren die Beteiligten, welchen Schaden und wieviel Leid mußte die jüdische Gemeinde erleiden, wie reagierten Augenzeugen auf die Ereignisse während der Pogromnacht und danach, wann wurde das Verbrechen nach dem Ende des Nationalsozialismus polizeilich untersucht, konnte die verbrecherische Tat aufgeklärt werden und welches Urteil wurde über die Täter gesprochen? Die vorgetragenen Ergebnisse und Schilderungen stützen sich vorwiegend auf polizeiliche Vernehmungen Beschuldigter, auf Aussagen von unbeteiligten Augenzeugen, auf Erinnerungen von Opfern sowie Aussagen und Tatbestände, die in den Jahren 1948 und 1949 beim Prozeß am Landgericht Ulm ermittelt werden konnten. In der Göppinger Lokalzeitung, dem "Hohenstaufen", wurde am Tag nach der Tat - anders als sonst in viel harmloseren Fällen - über die Zerstörung der Synagoge in wenigen Nebensätzen berichtet. In den Mitgliederversammlungen der Ortsgruppen Göppingen-Ost und Göppingen-West kamen deren Leiter bzw. Kreisleiter Baptist einige Wochen später indirekt auf den Pogrom gegen die Juden zu sprechen (s. Anhang S. 36ff), worüber die Zeitung ausführlich berichtete.

Nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte im Jahr 1933 und dem Erlaß der sog. "Nürnberger Gesetze" im Jahr 1935 kam es 1938 zu einer dritten Welle in der Diffamierung und Verfolgung der Juden. Schon im Frühjahr gab es reichsweit Aktionender NSDAP und SA, die unter der Parole "Juden raus aus der Wirtschaft" liefen.In Göppingen richtete sich diese Hetzkampagne zunächst gegen die jüdischen Viehhändler. Ab April 1938 kam es dann zu einer Reihe von Erlassen und Maßnahmen, welche die sog. "Entjudung der Wirtschaft" voranbringen sollten. Dazu gehörten beispielsweise die Verfügung, daß Juden ihr Vermögen, wenn es 5 000 RM überstieg, anmelden mußten mit dem Ziel, jede wirtschaftliche Veränderung nachprüfbar zu machen (26. April), der Ausschluß der Juden vom Besuch der Börsen (20.Juni) und das Verbot des Handels mit Grundstücken (6. Juli). Diese maßgeblich von Hermann Göring veranworteten Maßnahmen waren in der Hauptsache wirtschaftlich motiviert. Man wollte die jüdischen Firmen "arisieren", die reichen Juden enteignen, die Juden aus Deutschland vertreiben und sich dabei auch in den Besitz ihres zurückgelassenen, unbeweglichen Hab und Gutes bringen.

Ende Oktober 1938 kam es schließlich zur Ausweisung von rund 17 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich. Damit reagierte die Hitler-Regierung auf eine Verordnung der polnischen Regierung, alle Pässe der im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen ungültig werden zu lassen, sofern diese nicht bis zum 30. Oktober 1938 einen speziellen Vermerk erhielten. Die sich in Deutschland aufhaltenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die meist seit dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich lebten oder gar hier geboren waren, wurden daraufhin kurz vor Inkrafttreten der Verordnung abgeschoben. Die NS-Regierung wollte so der sich abzeichnenden Entwicklung zuvorkommen, rund 50 000 staatenlos gewordene Ostjuden im Reich behalten zu müssen. In den Tagen vom 26. bis zum 28. Oktober brachte man die Betroffenen in Sammeltransporten zur Grenze. Die ersten Ankömmlinge konnten noch nach Polen einreisen, die meisten wurden jedoch in den Grenzorten in Baracken und Ställen interniert. Am 29. Oktober wurde die Ausweisungsaktion abgebrochen. Wer sich noch vor der polnischen Grenze befand, konnte zurückkehren, die nach Polen eingereisten Juden blieben zunächst dort. Von dieser Ausweisungsaktion war auch eine in Göppingen beheimatete Familie betroffen: Die aus Lodz stammenden Eheleute Isaak und Rebekka Piotrkowsky wurden zusammen mit ihren beiden Kindern am 28. Oktober nach Auschwitz in Polen abgemeldet und über die Grenze gebracht.

Die Abschiebeaktion polnischer Juden führte schließlich zu einem Vorfall, den die Nationalsozialisten - wie die Göppinger Lokalzeitung in ihrer Ausgabe am 11.November titelte - auf den knappen Nenner brachten: "Juda erhält die Antwort". Der junge polnische Jude Herschel Grünspan, dessen Familie in Hannover lebte und von der Abschiebung bedroht war, hatte in Paris am 7. November 1938 auf den in der dortigen Deutschen Botschaft angestellten Legationssekretär Ernst vom Rath ein Attentat verübt. Der unmittelbar nach dem Anschlag von Hitler zum Gesandtschaftsrat beförderte vom Rath verstarb in den Nachmittagsstunden des 9. November in Paris.

Das Signal zum Losschlagen

Der 9. November war für die Nationalsozialisten kein gewöhnlicher Tag. Sie gedachten alljährlich des am 9. November 1923 in München mißglückten Hitler-Putschs, bei dem auch schon die damals noch junge Göppinger SA in Alarmbereitschaft gestanden hatte. So fanden am 9. November 1938 in den meisten Städten Gedenkveranstaltungen und Kameradschaftsabende statt. Die Göppinger SA hielt ihre Feierstunde im Saal des "Stadtgarten", einer Gaststätte beim Schockensee, ab. Zur Teilnahme waren alle Kreisamtsleiter sowie - wie es am Schwarzen Brett in der Zeitung hieß - alle "schriftlich besonders Eingeladenen" verpflichtet. Höhepunkte der künstlerisch umrahmten Veranstaltung waren die Ansprache des Kreisleiters und die Aufnahme der achtzehnjährigen Angehörigen der HJ in die Gliederungen der Partei.

In München hatte sich die Parteiprominenz zu einem Kameradschaftsabend im Alten Rathaus versammelt. Hier erfuhren Hitler und Goebbels vom Ableben Ernst vom Raths. Nachdem Hitler den Saal verlassen hatte, hielt Joseph Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, die berühmt gewordene Hetzrede gegen die Juden. Mit ihr gab er das Signal zum Losschlagen gegen die jüdischen Einrichtungen und die jüdischen Bürgerinnen und Bürger, der sog. "Volkszorn" sollte sich jetzt als Rache für die "feige Tat des Mordbuben" an ihnen frei entfalten dürfen. Der formale Meldeweg des Aufrufs zum Pogrom lief über die Gaupropagandaämter an die Kreis- und Ortsgruppenleiter der NSDAP bzw. über die SA-Stabsleiter im Reich. So kamen in Göppingen per Telefon übermittelt zwei Nachrichten an. Als Imanuel Baptist, der Kreisleiter der NSDAP Göppingen, um Mitternacht - von der Feierstunde im "Stadtgarten" gerade heimgekommen - erstmals den Hörer abnahm, war am anderen Ende der Leitung die Dienststelle der Gaupropagandaleitung der NSDAP Stuttgart mit folgender Mitteilung: "Vom Rath ist gestorben, die Volkswut ist entbrannt, im Lande brennen die Synagogen, die Leute von Hans haben besondere Anweisung." Mit "Leute von Hans" war die SA, mit "Hans" der SA-Führer Hans Ludin gemeint. Der Anruf, geführt von Adolf Mauer, in Stuttgart Gaupropagandaleiter und Leiter der Landesstelle des Reichspropagandaministeriums und so Partei- und Staatsinstanz zugleich, enthielt für Kreisleiter Baptist keine klare Anweisung oder einen Befehl, weshalb er versuchte herauszufinden, ob denn die SA einen solchen habe. Er telefonierte daraufhin Otto Schraag, den Verbindungsmann der SA zur Kreisleitung, an und forderte ihn auf, vor seinem Haus in Zivil zu warten und ebenfalls dorthin den SA-Sturmbannführer Friedrich Fenchel, der in der Nachbarstadt Eislingen wohnte, einzubestellen. Vor dem Hause Schraags kamen die drei zusammen. Im Gespräch stellte sich heraus, daß Sturmbannführer Friedrich Fenchel von der Geislinger SA-Standarte einen Anruf erhalten hatte. Freilich wollte er zu später Stunde nicht mehr ans Telefon und ließ sich deshalb über seine Frau verleugnen.

Die SA-Standarte Geislingen, so konnte die gerichtliche Untersuchung den Ablauf später rekonstruieren, hatte Weisung von der ihr vorgesetzten Stelle in Ulmerhalten. Dem Führer der SA-Brigade 56 Ulm war vom SA-Stabsführer der Gruppe Süd-West der Befehl übermittelt worden, "daß sofort sämtliche Synagogen niederzubrennen seien" und dieser Befehl an die untergebenen Standarten weitergegeben werden müsse. Der Ulmer SA-Brigadeführer Erich Hagenmeyer gab daraufhin den telefonisch übermittelten Befehl wörtlich an die SA-Standarten Ulm, Ravensburg, Ochsenhausen, Tübingen und Geislingen weiter. Den Geislinger Standartenführer Bischof konnte Hagenmeyer nur über Umwege erreichen. In dessen Stammlokal, dem Wirtshaus zum "Kreuz", wo er ihn vermutete und deshalb zuerst anrief, saß dieser am selbigen Abend nicht beim Bier. Der Wirtin wurde aufgetragen, Bischof sofort herbeizuholen. Schließlich konnte ihm der Befehl übermittelt werden. Nach der Schilderung eines Beteiligten, der später beim Prozeß geständig war und sich freimütig äußerte, trug sich nach dem Telefongespräch folgendes zu: "Bischof - gab kurz darauf den anwesenden Parteigenossen und Angehörigen der SA den Befehl, daß alles, was an SA-Männern zu erreichen war, zu alarmieren sei, um sich nach Göppingen zu begeben, um dort die Synagoge niederzubrennen. Dies spielte sich meines Erachtens kurz vor 24.00 Uhr ab. In der Gaststätte befanden sich nicht viele Leute, es waren in der Hauptsache SA-Männer und Angehörige der Partei. "Einer, der schon heim und zu Bett gegangen war, wurde herbeigerufen. Als dieser dann beim "Kreuz" eintraf, waren seine Freunde schon aufgebrochen und fuhren bereits mit einem mit Stroh aus der Wirtshausscheuer beladenen LKW, einem privaten PKW und zwei Wagen der SA-Standarte das Filstal hinauf. Pflichtbewußt und aus Angst vor einer Rüge holte der zu spät gekommene SA-Mann sein Fahrrad und fuhr hinterher. Zwischen Süßen und Salach radelnd sah er schon den Feuerschein über Göppingen stehen.

Die Durchführung der Tat

Die drei hohen Funktionäre, die sich vor dem Haus Schraags getroffen hatten, waren in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Mit dem Wagen des Kreisleiters Baptist fuhren sie zur heutigen Freihof-Turnhalle, dem damaligen Feuerwehrmagazin, das sich in direkter Nachbarschaft zum Rabbinerhaus und zur Synagoge befand. Dort wurden die Aufgaben verteilt. Fenchel und Schraag hielten nach der Geislinger SA Ausschau, Kreisleiter Baptist fuhr zur Polizeiwache und erteilte dort zwei Befehle: Die auf Streife befindlichen Polizisten sollten schnellstens zurückgezogen und in die Wache geholt werden, neue auszuschicken untersagte er. Damit wollte er sicherstellen, daß möglicherweise ein rechts- und pflichtbewußter Beamter einen Brandstifter verfolgen oder festnehmen konnte - Brandstiftung war ja auch im NS-Staat ein Vergehen gegen das Gesetz. Außerdem ließ Baptist den Feuermelder abschalten, damit ein eingehender Alarm nicht automatisch über die Weckerlinie in die Wohnung des Feuerwehrkommandanten und der Feuerwehrleute laufen konnte. Schließlich erteilte Baptist noch einem Polizeimeldefahrer den Auftrag, den Polizeiamtsrat zu Hause zu benachrichtigen, daß in einer halben Stunde die Synagoge brennen werde. Die gleiche Mitteilung machte Baptist dann Landrat Nagel, den er noch von der Polizeiwache aus zu Hause anrief.

Mittlerweile hatte der Geislinger SA-Trupp seinen Auftrag ausgeführt. Die Brandstifter hatten sich wohl gegen 2 Uhr nachts gewaltsam in den Synagogenraum Zutritt verschafft, dort das mitgebrachte Stroh deponiert und darüber und über die zusammengerollten Teppiche Benzin geschüttet. Die Synagoge brannte völlig aus, die kupferverkleidete Kuppel stürzte in den Innenraum, die rußgeschwärzten Backsteinwände blieben stehen. Als einer der ersten bemerkte der Hausmeister der benachbarten Schule den Brand. Vom Küchenfenster der Hausmeisterwohnung sah er, daß die Synagoge in Flammen stand. "Ich ging sofort auf die Straße" - so seine spätere Aussage bei der polizeilichen Vernehmung - "und schaute mir den ganzen Vorfall an. Ich dachte noch, wenn das Feuer auf das Schulhaus übergreift, würde dies bestimmt gefährlich werden. Und wie ich noch dastehe, fährt plötzlich ein Personenkraftwagen vor, aus welchem vier Mann herausspringen. Einer von den Vieren zieht eine Pistole und sagt zu mir, ich soll sofort verschwinden, andernfalls würde ich erschossen werden. Ich machte noch verschiedene Einwände, als Otto Schraag ebenfalls auf uns zukam und mit den andern noch ein Gespräch hatte. Hierauf wurde ich in Ruhe gelassen."

Der diensthabende Feuerwehrführer, der in der südlichen Altstadt wohnte, wurde während des Brandes angerufen und aufgefordert, zur Polizeiwache zu kommen. Auf dem Weg dorthin sah er den Feuerschein und wollte zunächst seine Wehr alarmieren. Er ging dann aber doch weiter Richtung Polizeiamt, weil - wie er bei seiner späteren Vernehmung zu Protokoll gab - "mir klar war, daß an diesem Ereignis irgendetwas nicht stimmte". Angekommen, meldete sich der Kommandant bei Landrat Nagel und forderte die Alarmierung eines Löschzugs, was abgelehnt wurde. Nach heftiger Auseinandersetzung wurde dem Feuerwehrmann die Alarmierung eines Zuges zugestanden, aber verboten, den Brand zu löschen. Es sollten lediglich die umliegenden Gebäude geschützt werden. Das Feuerwehrmagazin befand sich in der gleichen Straße wie die Synagoge, keine 50 Meter von ihr entfernt.

Während des Brandes stand auf der Straße in der Nähe der Synagoge zeitweilig eine Schar von 50 bis 80 Zuschauern. Viele von ihnen werden mit Befriedigung das Schauspiel verfolgt haben. "Na, heute Abend haben wir aber gründliche Arbeit geleistet", hatte ein Feuerwehrmann den Verbindungsmann der SA, Otto Schraag, sich gegenüber dem Landrat äußern hören. Es gab aber auch andere Reaktionen. Einer zeigte seine Abscheu vor der Tat auch nach außen hin, wie ein Polizeibeamter später zu Protokoll gab. Als morgens gegen 4 Uhr Amtsgerichtsrat Müller an ihm vorbeigegangen sei, habe er ihn vor sich hin sagen hören: "Das ist doch keine Art und Weise, das ist keine Arbeit, so etwas zu machen." Ein dabeistehender SAMann habe sich daraufhin zu Müller hin umgedreht mit den Worten: "Geht Sie dies etwas an oder paßt Ihnen dies vielleicht nicht?" Die Antwort: "Ich bin der Amtsgerichtsrat Müller." Darauf schrie ihn der SA-Mann an: "Sie können sein, wer sie wollen, wenn Ihnen dies nicht paßt" - und hielt ihm die Pistole vor die Brust. Amtsgerichtsrat Müller ging daraufhin weiter seines Wegs. In einer schriftlichen Stellungnahme hat derselbe Dr. Gebhard Müller - später Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg - erwähnt, daß am Brandplatz auch der Kommandant der Feuerwehr, Karl Keuler, ihm gegenüber offen seine Abscheu gegen die Aktion zum Ausdruck gebracht habe. Der Jurist Gebhard Müller verfaßte einen Bericht an die Staatsanwaltschaft und erstattete vermutlich Anzeige wegen Landfriedensbruchs und Brandstiftung. Zu einer Untersuchung ist es nie gekommen. Aber Müller wurde alsbald nach Stuttgart in ein "neutrales" Referat versetzt.

Am Tag nach der Brandnacht steigt noch Rauch aus der Ruine Blick auf die zerstörte Synagoge von Südosten vom Hof der benachbarten Schule
Auf dem Boden des Innenraums liegen die zerstörten Emporen, die verbrannten Ausstattungsstücke und Teile des eingestürzten Dachs Auf dem Boden des Innenraums liegen die zerstörten Emporen, die verbrannten Ausstattungsstücke und Teile des eingestürzten Dachs

Die Kupferverkleidung der Kuppel verglüht   im Innenraum. Das Hauptportal trägt nach Psalm 118, Vers 20 in Hebräisch die Inschrift: "Das ist das Tor des Herrn, die Gerechten werden dort einziehen." Mit der Zerstörung der Synagoge war nur eine Aufgabe dieser Nacht erfüllt. Der zweite Teil des Auftrags galt den jüdischen Geschäften, in Göppingen dem Warenhaus Georg Lendt in der unteren Marktstraße. Ein von Baptist herbeigerufener NSDAP-Mann fuhr im Kübelwagen des Otto Schraag dorthin. Bei seiner späteren Vernehmung vor Gericht schilderte jener Parteigenosse, wie Otto Schraag auf die Schaufensterscheibe des Kaufhauses zugerannt sei und diese nach mehrmaligen Versuchen unter Beteiligung anderer eingetreten habe. Das nächste Ziel des Trupps war das nicht weit entfernte Hotel Dettelbacher in der Bahnhofstraße. Beim Eintreffen hatte wiederum Schraag eine führende Rolle bei der Zerstörung des Eingangsbereichs und der Zertrümmerung der Gaststube übernommen. Ein Passant, der zu dieser frühen Zeit auf dem Weg zur Arbeit war, erkannte den SA-Mann und hörte ihn, mit dem Knüppel auf die Hoteleinrichtung eindreschend, schreien: "Dieses Saujudenpack, das müssen sie bitter büßen. Es soll nur einer kommen, der kriegt den Knüppel genauso aufs Hirn!" Danach fuhren die SA-Leute den gekommenen Weg zurück, um das Zerstörungswerk zu begutachten. "Auch hier hatte Schraag seiner Zufriedenheit Ausdruck gegeben, daß alles nunmehr gut geklappt habe" - so eine Zeugenaussage.

Der achteckige Kuppelansatz blieb zerstört stehen.

Die eingeschlagenen Scheiben beim Kaufhaus Lendt werden während des Tags mit Brettern zugenagelt Geschäftsinhaber Georg Lendt (mit Hut) und sein Dekorateur beseitigen die angerichteten Schäden
Kaufhaus Lendt in der unteren Marktstraße.Aufnahme um 1930 In der Pogromnacht wurde der Eingang des Hotels Dettelbacher und die Einrichtung des Saals zertrümmert

Das Hotel Dettelbacher an der Westseite des Bahnhofvorplatzes. Aufnahme um 1930

Die Verhaftung der jüdischen Männer

Und dann war in dieser Nacht noch ein dritter Auftrag zu erledigen. Zwischenzeitlich war nämlich bei der Polizeiwache in Göppingen die Weisung der Gestapo-Leitstelle Stuttgart zur Festnahme der männlichen Bürger jüdischen Glaubens eingegangen.Kreisleiter Baptist beauftragte einige Partei- und SA-Kameraden, der Polizei bei dieser Aufgabe zu helfen. Sie verhafteten dann die männlichen Juden im Alter von 16 bis 65 Jahren, zum Teil auch ganze Familien. Ein Zeitzeuge hat später seine Beobachtungen zu Protokoll gegeben und folgendes berichtet: "Von allen Seiten wurden Angehörige der jüdischen Gemeinde, Frauen, Kinder und auch Greise, mit erhobenen Armen von den SA-Leuten zur Polizeiwache getrieben. Am Bahnhof wurde ich dann von einer Anzahl SA-Leute umringt, die wohl SA-Stiefel und -Hosen trugen, aber dennoch durch Tragen von Zivilröcken einen zivilmäßigen Charakter trugen." Andere Juden - so belegen es Zeugenaussagen - wurden im Saal des Hotel Dettelbacher zusammengetrieben.

Ein Zeuge berichtete später dem Gericht, wie der Viehhändler Heinrich Dörzbacher durch die Straßen gejagt wurde: "Am 9. November 1938 (es war der 10. ,Anm. des Verfassers) ging ich morgens gegen 4.00 Uhr durch die Gartenstraße zum Bahnhof. Bei der Gastwirtschaft (Zum Bock) hörte ich Hilferufe aus der Geislinger Straße. Als ich nun die Betzstraße entlang gehen wollte, kam mir einer mit der Pistole in der Hand entgegen und rief mir zu: ‚Zurückgehen!’ Ich ging daraufhin wieder durch die Gartenstraße bis zur Schützenstraße und dann wieder in die Geislinger Straße. Dort traf ich dann auch Herrn Straub, den ehemaligen Gastwirt der Wirtschaft ‚Kohlesbek’. Wir beobachteten beide, wie jener Mann wild in das Grundstück des Juden Dörzbacher hineinschoß. Dörzbacher kam dann barfuß im Nachthemd aus seinem Garten herausgekrochen und lief schreiend die Straße entlang in Richtung Bahnhof. Wieder kam nun der betreffende Mann auf uns zu und jagte uns fort. Ich begab mich nun zum Postamt. Dort stand nun gegenüber etwa beim Café Schwarz der Jude Dörzbacher. Ich rief ihm zu: ‚Dörzbacher, was ist los?’ Außerdem stand bei mir noch die Tochter eines höheren Postbeamten, der im Postamt wohnte. Im Verlauf eines Gespräches sagte diese zu mir, daß sie von ihrem Vater gewußt habe, daß heute eine Aktion gegen die Juden stattfinden werde. Aber so schlimm habe sie sich die Sache doch nicht vorgestellt. (Während wir uns noch unterhielten, hörten wir, wie im Bahnhofshotel Dettelbacher alles kurz und klein geschlagen wurde). Plötzlich kam nun der bewaffnete Mann mit seinem Kraftwagen angefahren, stieg aus und ging auf Dörzbacher zu, mit den Worten: ‘Das sieht Dir ähnlich, Du Judenbube!’ Dörzbacher rief ihm entgegen: ‚Stellen Sie das doch ab, wir können doch nichts dafür!’ Daraufhin schlug der dem Dörzbacher ins Gesicht mit den Worten: ‚Was in Paris geschah, das habt ihr zu büßen!’"

Beim Abholen der Juden in ihren Wohnungen wurde zum Teil die Einrichtung verwüstet und geplündert. Im Jüdischen Museum Göppingen stellen wir ein kleines Gebetbüchlein mit dem Namenseintrag "Inge Banemann" aus - und dabei liegt ein Brief, der die Geschichte dieses Buchs, beginnend in der sog. "Kristallnacht", nach Beobachtungen einer Nachbarin schildert: "In der Novembernacht 1938 wurde Herr Banemann sehr mißhandelt, es war ja von der Synagoge kaum 30 Schritt bis zu seiner Wohnung. Am Morgen nach dieser Nacht sah ich Frau Banemann auf der Straße, sie war vollständig entstellt und sah wie eine Irre aus. Damals wurde den Juden fast alles genommen. Bücher und Sachen, die die Nazis nicht brauchen konnten, wurden in hiesige Fabriken gegeben, wo das Sach vernichtet und verbrannt werden sollte. Mein Bruder Hugo war Werkmeister bei der Firma Schuler und hat dort im Kesselhaus von dem zum Verbrennen daliegenden Haufen ein kleines Büchlein heimlich und streng verbotenerweise weggenommen und es mir gezeigt. Als ich sagte, ich kenne die kleine Banemann seit sie von ihrer Mutter im Kinderwagen ausgeführt worden ist, gab er mir dieses Büchlein. Ich habe es bei meinem Luftschutzgepäck all die Jahre versteckt, hoffend, Inge käme einmal wieder und ich könne ihr das Kinder-Gebetbuch wiedergeben. Sie kam nicht, niemand von Banemanns. Ich habe da und dort nachgefragt, aber immer nur erfahren können, daß Kinder und Eltern umgebracht worden seien."

Die verhafteten männlichen Juden wurden in den folgenden Tagen mit dem Bus, dem Zug und mit Lastwagen ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Bei einer meist mehrwöchigen Haft schüchterte man sie ein, machte sie mürbe und legte ihnen die Auswanderung nahe. Sehr eindrücklich schilderte ein Angehörigerder jüdischen Gemeinde Göppingen seine Hafterlebnisse in Dachau, dem ersten in Deutschland im März 1933 eröffneten Konzentrationslager, in einem in den 1960er Jahren geschriebenen Brief. Darin heißt es: "Nach zwei Tagen Gefängnishaft im Amtsgefängnis wurden wir in einem Omnibus der damaligen Göppinger Omnibusgesellschaft nach Dachau gebracht. … Abends kamen wir in Dachau an und wurden von der SS mit Ohrfeigen und Schlägen empfangen. Ich kam noch gut dabei weg. Anscheinend wurde ich mit dem Chauffeur verwechselt, der dann die Schläge dafür bekam. Wie ich später erfahren habe, wurde er dann zur Seite genommen und gedroht, daß es ihm schlecht gehe, wenn er davon erzähle. Dann wurden wir aufgestellt in Reih und Glied und alle Namen vorgelesen, mit Beruf. Die Kaufleute, Industriellen, Viehhändler wurden Volksbetrüger genannt und geschlagen, dann mußten wir wieder antreten und warten, bekamen nichts zu essen, nichts zu trinken, so ging das bis circa 1, 2 Uhr nachts. Dann wurden wir in einen Raum geleitet, der normalerweise vielleicht für 100 Personen ist. Wir waren circa 3 000 oder 4 000 Mann, wie Sardinen in einer Büchse übereinander und untereinander und ein Geschrei. Das war fast nicht auszuhalten. … Gut ich kam dann nach 6 Wochen Ferienaufenthalt in Dachau auch nach Hause, wo ich dann erfahren habe, daß unser Geschäft in Göppingen von meinem Vater verkauft worden ist, damit ich wieder nach Hause kommen durfte."

Reaktionen

Wenn auch von den Gewalttätigkeiten gegen Sachen und Menschen in dieser Nacht keine direkten Tatsachenschilderungen in der Zeitung standen, so dürfen wir doch annehmen, daß sich trotzdem im noch überschaubaren Göppingen die Vorfälle rasch herumgesprochen haben. Die Brandruine an der Freihofstraße wurde zwar schnell beseitigt, verschwand aber auch nicht von einem auf den anderen Tag. Und danach verwies die Baulücke auf das Geschehen. Wenn ein Nachbar fehlte, weil er nach Dachau deportiert worden war, so wird sich auch diese Nachricht in einer Kleinstadt herumgesprochen haben.

Ein Sturm des Protestes hat sich jedenfalls nicht erhoben, es gab auch keine Kritik von seiten der Kirchengemeinden, die ja im Falle der später eingeleiteten "Euthanasie- Aktion" durchaus geäußert wurde und dazu beitragen konnte, die Machthaber zur Änderung ihrer Pläne zu zwingen. Laute kritische Stimmen gab es nur wenige und nur von einzelnen, auch wenn wir davon ausgehen dürfen, daß viele, die stumm blieben, diese Gewalttätigkeiten als abscheulich und zu weitgehend empfanden. Von Gebhard Müllers Einspruch und Anzeige, die von seinem Rechtsempfinden wie von seiner persönlichen Haltung her bestimmt waren, haben wir bereits gehört. Aus Berufsethos und Geradlinigkeit protestierte ebenso Feuerwehrkommandant Karl Keuler. Er sah seine Aufgabe im Löschen eines Brandes, ohne Ansehen der Person und Eigentümer eines Gebäudes. Weil er offen seinen Unmut über die ihm verordnete Untätigkeit zum Ausdruck brachte, hatte er sich alles andere als beliebt gemacht. Mit einem Rücktritt vom Amt des Kommandanten kam er der zu erwartenden Absetzung zuvor.

Menschlich korrekt hatte sich auch Polizeirat Rudolf Hahn verhalten, der erst im September 1938 von Schramberg nach Göppingen strafversetzt worden war. Die Schwarzwaldstadt hatte er aufgrund von Reibereien mit der NSDAP verlassen müssen. Allein schon wegen mangelnder örtlicher Kenntnis hätte er sich in dieser Nacht beim Aufsuchen und Verhaften der Juden wenig hervortun können. Trotzdem wurde er später von Kreisleiter Baptist als der Hauptakteur bei den Verhaftungen der Juden hingestellt. Mehrere Zeugen gaben für Polizeirat Hahn eidesstattliche Erklärungen ab und überführten letztlich Baptist der Lüge. Das Gericht glaubte der Aussage Hahns auch deshalb, weil dieser mehrfach angezeigt worden war, weil er für Juden Partei ergriffen und gegenüber Polizeibeamten geäußert hatte, "daß die Juden auch Menschen und keine Verbrecher und anständig zu behandeln seien". Georg Feldwiese, Polizeiobersekretär in Göppingen, schilderte Äußerungen, die sein Vorgesetzter ihm gegenüber in der sog. Kristallnacht gemacht hatte: "Herr Polizeirat Hahn hat sich anläßlich des Synagogenbrandes in Göppingen über die gesetzwidrig begangene Tat sichtbar entrüstet und hierin ein nicht zu verantwortendesUnrecht und Verbrechen erblickt. Ich war über die offene und unerschrockene Stellungnahme besonders tief beeindruckt, weil Herr Hahn nach kurzer Zeit der Amtsübernahme sich über meine politische Einstellung und charakterliche Veranlagung noch kein Urteil bilden konnte und sich daher der akuten Gefahr aussetzte, ob der Äußerung als Gegner des Dritten Reichs erkannt und entlarvt zu werden."

In der Lokalzeitung "Hohenstaufen" erschien am 11. November ein Kommentar, in dem die offizielle Sicht und die Rechtfertigung der Gewaltakte vorgetragen wurden. Unter der programmatischen Überschrift "Die Geduld ist zu Ende" wurde die "ungeheure Empörung" des deutschen Volkes über den Tod Ernst vom Raths in den Mittelpunkt gestellt. In spontanen Kundgebungen - so heißt es dort im Stil der reichsweiten Sprachregelung - habe sich das Volk gegen das Judentum Luft geschafft, wobei "in vielen Städten die Schaufenster jüdischer Ramschläden von empörten Volksmassen zerstört … und auch einige jüdische Tempel … in Flammen aufgegangen seien". Die Gewalttaten wurden als "Ausdruck einer gerechten Empörung breitester Schichten des deutschen Volkes" gerechtfertigt.

Bei den Ende November abgehaltenen Mitgliederversammlungen der Ortsgruppen der NSDAP kamen die örtlichen Vorgänge in sehr allgemeiner Form zur Sprache, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil manche Mitglieder ein Unbehagen beschlichen hatte und diese propagandistisch wieder aufgerichtet werden mußten. So thematisierte z. B. Parteigenosse Veil, der Leiter der Ortsgruppe Göppingen-West, am 18. November bei einer Mitgliederversammlung die "nunmehr eingeleitete Abrechnung mit den Juden", die wie andere Volksschädlinge "Deutschland nur unterminieren wollten, um es letzten Endes zu vernichten". Die eigentliche Botschaft seiner Rede zitierte die Zeitung in ihrem Veranstaltungsbericht dann im Wortlaut: "Die Aufklärung, die der Ortsgruppenleiter über die Ereignisse in Göppingen selbst gab, stopften nicht nur manchen dummen Schwätzern den Mund, sondern zeigten zugleich das Wesentliche: Zuerst sind in diesem Reiche wir Herr, zuerst sorgen wir für uns und unsere Kinder. Wir wollen auch für die Zukunft die treuen Kämpfer für den Führer sein, die er für seine großen Aufgaben haben muß."

Eine Woche später erläuterte Kreisleiter Baptist in der Mitgliederversammlung der NSDAP-Ortsgruppe Göppingen-Ost in noch markigeren Worten, wie "wir als Volk die Antwort auf die Folgen der verbrecherischen Schüsse des Wüstensohnes Grünspan" gaben. Auch seine Rede enthielt unverhohlen Drohgebärden gegenüber nicht näher bezeichneten Personen, denen offensichtlich diese Form der Judenverfolgung zu weit ging. Dazu Baptist wörtlich: "Wer kein Verständnis dafür hat, daß durch rächende Hände deutscher Menschen Synagogen, Brutstätten alttestamentarischen Hasses, verschwinden und die anmaßenden Schaufensterauslagen der Judengeschäfte wie bei dem Wunder von Jericho schwanken und bersten ließen, mag sich dem nunmehr immer stärker werdenden Zuge nach dem Lande Kanaan oder nach Guyana anschließen, der mag jenen Gesellschaft leisten und auf die Großmütigkeit rechnen, die bis heute jenen widerfahren ist; er wird dann lernen müssen, daß wir allein das Judenproblem richtig erkannten." In seiner Rede erwähnte Baptist auch, daß 34 Juden - wie er sich zynisch ausdrückte - "ganz friedlich abgeholt" worden sind. "Von ihnen sind 7 gleich wieder entlassen worden, ohne daß ihnen etwas geschehen ist. Die übrigen 27 bekamen einen bestimmten Aufenthaltsort zugewiesen. Aber auch von diesen sind einige, die die Schiffskarte schon in Aussicht hatten, inzwischen wieder zurückgekehrt. Anderen hat man durch Entlassung die Möglichkeit gegeben, ihre Geschäfte möglichst schnell abzustoßen." Der Kreisleiter machte dann Ausführungen über den Stand der Abwicklung der Juden-Geschäfte. Damit war er zu einer zentralen Frage des Jahres 1938 gekommen, eben wie man möglichst schnell die Vermögenswerte der Juden in "arische" bzw. in staatliche Hände bringen konnte.

Von den Juden wird eine "Sühneleistung" verlangt

Nicht alle Nationalsozialisten waren der Auffassung, mit der Zerstörung der jüdischen Geschäfte habe man sich einen politischen Gefallen erwiesen. Am 12. November berief deshalb Göring eine Sitzung ein, um einen Überblick über die wirtschaftlichen Aspekte der Pogromnacht zu erhalten. Goebbels nahm an diesem Treffen teil, Heydrich stellvertretend für Himmler, Wirtschaftsminister Funk, Hilgard als Vertreter der Versicherungsgesellschaften. Göring zeigte sich entsetzt, daß allein für die Einfuhr des zu ersetzenden Fensterglases mehrere Millionen Reichsmark ausgegeben werden mußten. Er erläuterte, daß es darum gehen müsse, die Juden loszuwerden, aber nicht deren Besitz. Er tadelte Goebbels mit dem entlarvenden Satz: "Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet." Über die damalige Diskussion im Reichsluftfahrtministerium gibt es ein Wortprotokoll. Passagen daraus machen deutlich, wie sehr es den Nationalsozialisten auch um die Ausplünderung der Juden ging. Dabei wurden sie von der Einstellung der Versicherungsgesellschaften, aus Gründen der Glaubwürdigkeit die Schäden bezahlen zu wollen, überrascht.

Hilgard, der Vertreter der Versicherungen, begründete deren Entscheidung: "Wir haben für unsere Geschäfte eine sehr gute internationale Basis, und wir müssen … Wert darauf legen, daß das Vertrauen zu der deutschen Versicherung nicht gestört wird. Wenn wir es heute ablehnten, uns gesetzlich obliegende Verpflichtungen zu erfüllen, so wäre das ein schwarzer Fleck auf dem Ehrenschild der deutschen Versicherung." Göring dazu: "Aber nicht mehr in dem Augenblick, wo ich durch eine staatliche Verordnung, durch ein Gesetz eingreife." Hilgard: "Darauf wollte ich kommen." Heydrich: "Man mag ruhig die Versicherung ausschütten, aber nachher bei der Auszahlung wird sie beschlagnahmt. Dann ist formell das Gesicht gewahrt." Nach längerer Diskussion faßte Göring das Ergebnis zusammen, bevor Hilgard die Sitzung verließ: "Der Jude muß den Schaden anmelden. Er kriegt die Versicherung, aber die wird beschlagnahmt. Es bleibt also im Endeffekt immerhin doch noch insofern ein Verdienst für die Versicherungsgesellschaften, als sie einige Schäden nicht auszuzahlen brauchen. Herr Hilgard, Sie können schmunzeln!"

Göring schloß die Besprechung mit dem Vorsatz, den deutschen Juden in ihrer Gesamtheit "als Strafe für ihre ruchlosen Verbrechen eine Kontribution von einer Milliarde Reichsmark" aufzuerlegen. Diese sog. "Sühneleistung" mußte innerhalb kurzer Zeit dem Reich erbracht werden. Auf der Basis der Verordnung über die Vermögensanmeldung vom 26. April 1938 wurde von jedem jüdischen Bürger eine 20%ige Abgabe von seinem Vermögen verlangt, die in vier Teilraten bis Mitte August 1939 eingezogen werden sollte. Als die Milliarde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht war, wurde die Abgabe auf 25 % erhöht. Am Ende verbuchte das Reich bei diesem Raubzug eine Einnahme in Höhe von 1,127 Milliarden Reichsmark.

Aufräumarbeiten

Das Landratsamt bemühte sich, Kosten für die Abräumung des Synagogenschutts mit halbwahren Aussagen durch die Versicherung ersetzen zu lassen. Verwaltungsmäßig wurde dies schon am Tag des Geschehens, am 10. November, auf den Weg gebracht. Landrat Nagel schickte einen Brief mit dem Vermerk "Eilt sehr" an die Württembergische Gemeindeversicherung mit folgendem Inhalt: "Heute ist gegen 3.45 Uhr in der der jüdischen Kultusgemeinde gehörigen Synagoge, Freihofstraße Nr. 13, ein Brand ausgebrochen, der das Gebäude bis auf die Umfassungsmauern zerstörte. … Die Brandreste wurden von der Freiwilligen Feuerwehr Göppingen abgelöscht. Die Leitung der Löschanstalten hatten Landrat Nagel und Regierungsassesor Kübler. Von einem formularmäßigen Brandbericht kann m. E. abgesehen werden, weil mit Bestimmtheit damit zu rechnen ist, daß die jüdische Kultusgemeinde keinen Antrag auf Entschädigung stellen wird." Am Schluß des Schreibens bat der Landrat um die Begleichung der beigefügten Kostenrechnungen, die dem Landratsamt im Zusammenhang mit den "Löschanstalten" entstanden waren. Die Brandversicherungsanstalt wies dieses Ansinnen zurück mit dem Verweis, der Landrat sei gesetzmäßig für die Leitung einer Löschaktion gar nicht zuständig. Das Landratsamt ließ nicht locker und argumentierte, der Landrat müsse bei Großbränden so handeln und - in einem nachgeschobenen Schreiben vom 8. Juni 1939 - es habe sich aus politischen Gründen um einen Ausnahmefall gehandelt, denn der Polizeiamtsvorstand sei mit Verhaftungen befaßt gewesen und hätte die Löscharbeiten gar nicht steuern können. Letztere Behauptung war gelogen. Auch die Stadt versuchte, die ihr entstandenen Kosten beim anschließenden Sprengen und schnellen Wegräumen der Brandruine wieder hereinzuholen. Oberbürgermeister Dr. Pack, der 1949 vor Gericht aussagte, er habe erst morgens um einhalbsieben von dem Brand erfahren und er wisse nicht, warum man ihm die Sache nicht mitgeteilt habe, erkundigte sich bei der Württembergischen Gemeindeversicherung, ob die Kosten für die Sprengung der Synagogen-Ruine und die Abfuhr des Schutts, die 3 858 RM 85 Pf. verursacht hatten, nicht ersetzt werden können. Dies war allerdings nicht der Fall.

Ein im Schutt gefundenes Fünfmarkstück in Gold - es stammte aus der im Grundstein 1880 eingemauerten Blechbüchse - übergab der Oberbürgermeister korrekt der Göppinger Filiale der Deutschen Reichsbank. Für die mit dem Brandschuttabfahren beauftragten Göppinger Fuhrunternehmer hatte das einträgliche Geschäft noch ein bitteres Nachspiel. Sie hatten für eine Fuhre 4,50 RM erhalten unter der Maßgabe, die Steine auf die städtischen Auffüllplätze an der Stadionstraße und an der Ulmer Straße zu führen, da "sich niemand an dem Eigentum der Juden bereichern sollte, sei es auch nur noch an brauchbaren Backsteinen". Ungeachtet der Vergabebedingungen verkauften die Fuhrunternehmer die Backsteine und Bodenfliesen jedoch zum Teil weiter. Um das Ausmaß der Verfehlungen feststellen zu können - am Ende stellten sich 93 unerlaubt verschobene Fuhren heraus -, mußte jeder Fuhrunternehmer sechs Fragen schriftlich beantworten, nämlich: "1. Haben Sie Steine von der Synagoge an andere Plätze geführt, als an die von uns bestimmten Auffüllplätze? 2. An wen haben Sie Steine geliefert und in welcher Menge? 3. Wieviel haben Sie dafür verlangt? 4. Wieviel haben Sie im einzelnen und im gesamten erhalten? 5. Haben Sie selbst Steine für sich verwendet und in welcher Menge? 6. Haben Sie auch Alteisen, Zinn, Kupfer vom Brandplatz mitgenommen. An wen haben Sie dieses Material geliefert und was haben Sie dafür erhalten?" Zur Kontrolle der Aussagen der Fuhrunternehmer wurden auch die 34 ausfindig gemachten Bezieher des noch brauchbaren Baumaterials schriftlich befragt. Am Ende des Fragebogens stand der unmißverständliche Hinweis: "Derjenige, der irgend etwas verschweigt oder wissentlich falsche Angaben macht, wird unbedingt zur Rechenschaft gezogen."

Den Platz der ehemaligen Synagoge wollte die Stadt nicht zum Einheitswert, sondern zum geringeren Nutzwert einer öffentlichen Fläche zur Gestaltung einer Anlage erwerben. Dies war auch im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber richtig gehandelt. Die Gemeinde Buchau mußte beispielsweise den von den Juden geschenkten Platz der zerstörten Synagoge wieder zurückgeben. Der württembergische Innenminister wies diese Gemeinde darauf hin, "daß es mit den rassischen Grundsätzen des nationalsozialistischen Staats nicht vereinbar ist, wenn Gemeinden Schenkungen von Juden annehmen". Hiervon wurden in einem Rundschreiben die Oberbürgermeister, auch Dr. Erich Pack in Göppingen, im Januar 1939 hingewiesen.

Suche nach den Tätern

Die erste Spur zur Aufklärung der verbrecherischen Tat nahmen die amerikanischen Besatzer auf. Ihre amtliche Zensurbehörde entdeckte einen wichtigen Hinweis in einem Schriftwechsel vom 20. Mai 1946 zwischen dem Evangelischen Dekanat Geislingen und dem II. Evangelischen Stadtpfarramt Ludwigsburg. Darin ging es um die Wiederaufnahme von Rudolf Mayer in die Kirche. Er wird in diesem Schriftstück nebenbei als der Anstifter bei der Zerstörung der Göppinger Synagoge bezeichnet. Die Zensurbehörde holte sich daraufhin weitere Informationen beim evangelischen Dekan und brachte in Erfahrung, daß es als ziemlich bekannt galt, daß Rudolf Mayer und "ein gewisser Hauf" (gemeint war Kapff), an der Brandstiftung beteiligt waren. Mayer war zu dieser Zeit im Internierungslager Ludwigsburg. Kapff hatte sich im Mai 1946 das Leben genommen.

Im November 1946, acht Jahre nach der Pogromnacht, erscheint in der "Neuen Württembergischen Zeitung" ein Artikel mit der Überschrift: "Ein Verbrechen geschah - Wer sind die Täter?" Weiter heißt es dann im Text: "Das in Göppingen begangene Verbrechen ist heute noch ungesühnt. Die Täter, Teilnehmer und Auftraggeber an der Brandstiftung sind im Augenblick noch nicht ermittelt, die Schuldigen noch nicht abgeurteilt." Ferner wird berichtet, daß die Sozialdemokratische Partei in Göppingen in ihrer Mitgliederversammlung eine Entschließung gefaßt habe, in der mit Befremden festgestellt werde, daß gegen die Brandstifter bisher noch keine Schritte unternommen worden seien - und "dies in einer Zeit, in der täglich harmlose Mitläufer vor der Spruchkammer zur Verantwortung gezogen werden. Es wäre jetzt wirklich an der Zeit, auch die wirklichen Quälgeister der Bevölkerung und die Hauptschuldigen an der Brandstiftung festzustellen und zu bestrafen." Die Zeitung fordert dazu auf, der Spruchkammer oder der Redaktion sachdienliche Hinweise zukommen zu lassen.

Die Untersuchung setzte schließlich ein Schreiben des Göppinger Ortsausschusses des Gewerkschaftsbunds an das Polizeiamt in Gang, dem eine Aussage eines Eislinger Bürgers über die Brandstiftung beigefügt war. Die Kriminalabteilung des Polizeiamts erstattete daraufhin Strafanzeige wegen Verdacht der Brandstiftung an Synagoge und Verdacht des Landfriedensbruchs. Zuerst wurden die in der Nacht vom 9. auf den 10. November diensthabenden Polizeibeamten vernommen. Im Dienstbuch der Polizeistelle konnte man nachlesen, daß sie bis 4 Uhr nicht auf die Straße zum Streifendienst gehen sollten. Sie bestätigen übereinstimmend, daß zwischen 1 und 2 Uhr nachts SA-Leute auf die Wache gekommen seien und gesagt hätten: "Die Volkswut ist ausgebrochen." Im weiteren Gespräch hätten sie dann die Aktion gegen die Juden erkannt; daß die Synagoge angezündet werden solle oder schon in Flammen stehe, habe sich herumgesprochen.

Die Befragung der unbeteiligten Augenzeugen und die der nach und nach genannten Täter brachte vorwiegend widersprüchliche oder abwiegelnde Äußerungen zu Tage. Wachtmeister Gessner, der einen Großteil der Vernehmungen führte, faßte das Ergebnis aus seiner Sicht wie folgt zusammen: "Viele Zeugen wollten nichts mehr wissen." Und: "Alle sind einig in dem Bestreben, sich und andere in keine Unannehmlichkeiten zu bringen."

Der Prozeß

Am 29. September 1948 übersandte der Oberstaatsanwalt seine Anklageschrift der Großen Strafkammer des Landgerichts Ulm. Er stellte den Antrag, gegen 15 Personen die Hauptverhandlung vor der Strafkammer anzuordnen. Die Anklage lautete auf Landfriedensbruch und gemeinschaftliche Brandstiftung. Bevor es zur Verhandlung kam, wurden auf Beschluß der Strafkammer vier Polizeibeamte von der Anklageliste gestrichen, weil nicht klärbar war, ob sie Befehle zur Verhaftung von Juden gegeben hatten bzw. weil die Beschuldigungen eine Verurteilung nicht erwarten ließen. Von der Liste der Anzuklagenden wurde auch der Ulmer SA-Bannführer und spätere Reichstagsabgeordnete Erich Hagenmeyer gestrichen, da er bereits wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, nämlich das Anzünden der Synagoge in Buchau, verurteilt worden war. Hier hatte er, nachdem der Brandanschlag beim ersten Mal nicht geklappt hatte, sich tags darauf nach Buchau begeben, um die Tat zu vollenden. Vor Gericht gab sich Hagenmeyer arrogant und unwissend, als er nach seinem Befehl an die Geislinger SA befragt wurde. Er sagte dazu lapidar: "Ich habe in meinem telefonischen Anruf nicht verlangt, daß mir die Durchführung meines Befehls zu melden sei. Ob die Synagogen tatsächlich abgebrannt wurden, habe ich kurz nach Brandstiftung von keiner Seite erfahren. Später ist mir dann aber zu Ohren gekommen, daß die Synagoge in Göppingen tatsächlich abgebrannt ist. Mir sind auch die Namen der Brandstifter nie bekannt geworden."

Das Urteil fällte die Strafkammer in der Sitzung am 23. und 24. Juni 1949. Von den zehn Angeklagten wurden zwei, darunter der ehemalige Landrat Nagel, freigesprochen. In seinem Fall glaubten die Richter, daß er gegen die Gewaltaktion der NSDAP und der SA in dieser Nacht nichts wirklich Probates unternehmen konnte. Dagegen legte das Gericht die einzeln bezeuten mißbilligenden Äußerungen in dieser Nacht nicht zugunsten des Angeklagten auf die Waagschale, weil es - so die Begründung - viele Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung gab, "die diese Vorgänge mißbilligten, aber trotzdem mitmachten, weil sie an die nationalsozialistische Idee glaubten und trotz persönlicher Enttäuschung ‚um Deutschlands willen’, wie die Erklärung meist lautete, durch Dick und Dünn mit den nationalsozialistischen Machthabern gingen".

Die härteste Strafe erhielt der ehemalige Kreisleiter Imanuel Baptist. Wegen Vergehen des Landfriedensbruchs in Tateinheit mit einem gemeinschaftlich begangenen Verbrechen der Brandstiftung wurde er zu zwei Jahren Zuchthaus - ein Jahr Internierungslager wurde dabei angerechnet - und der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für drei Jahre verurteilt. Sieben weitere Angeklagte wurden des Landfriedensbruchs für schuldig befunden, darunter Schraag und Fenchel mit den höchsten Strafen von einem Jahr bzw. einem Jahr und acht Monaten Gefängnis bestraft. Bis auf einen Verurteilten hielten sich alle für unschuldig. Der geständige SA-Mann aus Geislingen sagte klipp und klar, "der Zweck der Fahrt nach Göppingen war: Die Synagoge in Brand zu stecken und sie durch Feuer zu vernichten".

Kreisleiter Baptist verneinte bei einer ersten Vernehmung, als er sich in Untersuchungshaft in Rastatt befand, seine Verstrickung in das Verbrechen und eine mögliche persönliche Schuld, indem er ausführte: "Über staats- und strafrechtliche Auswirkungen müßte sich ja eine von Juristen besetzte Partei- und Regierungsstelle Gedanken gemacht haben. Ich habe nie nachgefragt oder nachgeforscht oder erfahren, wie sich die Brandlegung ereignet hat und durch wen. Auch trotz meines Amtes wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Täter von der Durchführung abzuhalten. Ich fühle mich unschuldig, weil ich unbeteiligt bin." Vor Gericht verteidigte er sich mit der Behauptung, er habe in der fraglichen Nacht nur "vorbeugende Maßnahmen" getroffen, die Plünderungsversuche von dunklen Elementen verhindern sollten. Deshalb habe er die Polizei-Streifen hereinholen lassen und noch aus den Reihen der NSDAP Verstärkung geholt. Das Niederbrennen der Synagoge - so führte er wiederholt gegenüber dem Gericht aus - habe er nicht verhindern können, da er keine Befehlsgewalt über die SA gehabt habe. Die Vorfälle jener Nacht habe er selbst nicht gebilligt.

Das Gericht schenkte seinen Aussagen und seinem Insistieren auf Unwissen und Ohnmacht keinen Glauben, sondern stellte vielmehr fest, daß er den "reibungslosen Ablauf der sog. Volkswut", also die Gewaltaktionen der SA, sicherstellen wollte. Der Historiker Wolfgang Benz hat als ein Ergebnis seiner Untersuchungen des Pogroms herausgestellt, daß alle aktiv Beteiligten als Angeklagte vor Gericht zu ihrer Entlastung beteuerten, die Sache sei befohlen gewesen. Er verweist aber weitergehend auf das Engagement, mit dem dieser Befehl ausgeführt wurde und so - seine Wertung - erst "die Dimension des Ergebnisses" ausmachte: "Goebbels hatte an die niederen Instinkte appeliert und eine Flutwelle von Aggressionen und Vandalismus, Zerstörungsrausch und Mordlust entfesselt, die biedere Bürger und harmlose kleine Leute in Bestien verwandelte." Tatsächlich waren auch die der Zerstörung der Göppinger Synagoge angeklagten Männer bis dahin allesamt unbescholtene Bürger. Im beruflichen Leben verdienten sie ihren Lebensunterhalt als Beamter, Ingenieur, Kaufmann, Handwerker und selbständiger Handwerksmeister. Die am Schluß verurteilten acht Personen waren fast alle verheiratet und zwischen 21 und 50 Jahre alt.

Der Angeklagte Schraag stritt alles ab. Es war erwiesen, daß er sich über den Zweck der Aktion im Klaren war, das Gericht konnte ihm aber keine direkte Beteiligung am Anzünden der Synagoge, beim Zerstören des Schaufensters am Kaufhaus Lendt und beim Hotel Dettelbacher eindeutig und zweifelsfrei nachweisen. Fenchel sagte vor Gericht aus, er sei gar nicht an der Synagoge gewesen, sondern "in den Straßen von Göppingen herumgeirrt". Das Gericht schenkte auch seiner Aussage keinerlei Glauben, zumal er sich später gerühmt hatte, wie einige Zeugenaussagen bestätigten, die Synagoge angezündet zu haben.

In rechtlicher Hinsicht sah das Gericht den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllt, nämlich sich öffentlich zusammengerottet und mit vereinten Kräften vorsätzlich Gewalttaten begangen zu haben. Daß der Befehl zum Anzünden der Synagoge letztlich rechtswidrig war, wollte das Gericht nicht als Entlastung werten. Dazu stellte es fest: "Daß man Gotteshäuser nicht anzünden und fremdes Eigentum nicht beschädigen darf, sind so fundamentale Grundsätze des Zusammenlebens in staatlichem Verband, daß an ihnen schlechthin kein Zweifel sein kann; diese Grundsätze sind Allgemeingut und waren auch den Angeklagten bekannt."

Daß Baptist, Schraag und Fenchel Rädelsführer waren, was ein Punkt der Anklage besagte, dies konnte die Strafkammer nicht begründend feststellen.

Eine besondere Würdigung ließ das Gericht der Verhaftung von Bürgern jüdischen Glaubens zukommen. Auch hier waren Baptist und Schraag mit vier weiteren Angeklagten der Teilnahme beschuldigt. Die Festnahmen wertete die Kammer jedoch nicht als schweren Hausfriedensbruch, da in die Wohnungen der Juden keine Menschenmenge eingedrungen war, sondern jeweils nur wenige Männer die Juden abholten. Außerdem maß die Kammer dem Sachverhalt, daß der Befehl zur Festnahme der Juden von einer staatlichen Behörde, eben dem Reichssicherheitshauptamt, ergangen war, eine besondere Bedeutung bei. Dieser Befehl diente keinem legalen Zweck, sondern - so das Gericht - der Verfolgung einer Gruppe, und "deshalb war der Festnahmebefehl und damit auch die ganze Festnahmeaktion in jener Nacht objektiv rechtswidrig". Auf den Tatbestand der Freiheitsberaubung wollte das Gericht nicht schließen, da die Handelnden den Verstoß der Anordnung gegen die Strafgesetze nicht erkennen konnten, weshalb den Angeklagten - so im Urteil ausgeführt - aus subjektiven Gründen eine strafbare Handlung in diesem Punkt nicht nachzuweisen sei.

Schließlich begründete das Gericht noch, was erschwerend bzw. mildernd das Strafmaß beeinflußt hatte: Als erschwerend werteten die Richter die Schädigung des Ansehens des anständigen deutschen Bevölkerungsteils und die Tatsache, daß dem deutschen Volke Schaden zugefügt worden war. Als mildernd berücksichtigte das Gericht die Tatsache, daß die Angeklagten durch "den Zusammenbruch des Dritten Reichs" und durch Entnazifizierungsverfahren bereits schon gebüßt hatten. Als mildernde Umstände werteten die Richter auch die Tatsache, daß die Angeklagten - bis auf Baptist - auf Befehl gehandelt hatten.

Die Anwälte hatten sämtlich für ihre Mandanten auf Freispruch plädiert. Die Angeklagten verzichten bis auf Baptist am Schluß des Verfahrens auf eigene Stellungnahmen. Baptist sagte, "er bitte unter Berücksichtigung seiner 45monatigen französischen Internierungshaft und des Umstandes, daß er durch Plünderungen sein gesamtes Hab und Gut verloren habe, um ein gerechtes Urteil".

Die Strafen mußten in keinem Fall in dem verhängten Umfang abgesessen werden, die mehrfach gestellten Gnadengesuche waren letztlich nicht ohne Erfolg. Am Beispiel Baptists sei dies belegt: Nachdem sein erstes Gnadengesuch vom 16. November 1949 zurückgewiesen wurde, reichte er im Juni 1950 ein zweites Gesuch auf Begnadigung ein und führte dafür über ein Dutzend Gründe an. Dem Hinweis, daß das Verfahren gegen seinen einstigen "Vorgesetzten", den Leiter der Landesstelle des Reichspropagandaamts Adolf Mauer, der die Kreisleiter über die Aktion gegen die Juden in der Nacht vom 9. auf 10. November unterrichtet hatte, eingestellt worden sei und er als Untergebener und Befehlsempfänger letztlich härter bestraft werde, mag man eine gewisse Logik nicht absprechen. Daß Baptist aber in gleichem Atemzug erklärt: "Ich verwarf stets in meiner politischen Tätigkeit Gewaltanwendung, insbesondere gegen kirchliche u. ä. Institutionen wie auch gegen Andersdenkende", ist schon ein starkes Stück. Die Justiz hätte ihm da seine offiziellen Verlautbarungen in Schulungspapieren und seine in den Zeitungen wiedergegebenen Reden bei öffentlichen Anlässen oder vor den Ortsgruppen nochmals vorlegen sollen.

Dem zweiten Gnadengesuch Baptists wird teilweise stattgegeben. Er erhält Strafaussetzung für den Rest der nicht verbüßten Strafe vom 17. September 1950 an. Seiner Bitte um Tilgung des für drei Jahre ausgesprochenen Ehrverlusts wird nicht nachgekommen. Nach bestandener Bewährung wird Baptist die Reststrafe im Sommer 1954 endgültig erlassen.

Erinnern und Gedenken

Mit dem Urteilsspruch im Jahr 1949 am Landgericht Ulm war die verbrecherische Tat juristisch aufgearbeitet und bewältigt. Zur selben Zeit mußte sich die Stadt mit der Frage befassen, ob beim 1939 eingeleiteten Erwerb des Synagogenplatzes alles mit rechten Dingen zugegangen war. Die Nachfolgeorganisation der Israelitischen Kirchengemeinde hatte Rückerstattungsanspruch geltend gemacht. Dieser bezog sich auf den Synagogenplatz, das benachbarte Rabbinat und eine Teilfläche des jüdischen Friedhofs im Areal des Friedhofs an der Hohenstaufenstraße. Darüber war im Juni 1939 ein Kaufvertrag geschlossen worden, vollzogen wurde dieser aber erst 1941. Die jüdische Gemeinde Göppingen gelangte nie in die freie Verfügung des - niedrigen - Kaufpreises. Am 30. September 1949 wurde vor dem Schlichter für Wiedergutmachung in Ulm zwischen der Stadt Göppingen und der Jewish Restitution Successor Organization mit Sitz in New York ein Vergleich geschlossen, dem Wochen später der Göppinger Gemeinderat einmütig zustimmte. Der wesentliche Inhalt dieses Vergleichs besagte, daß die Stadt zur Abfindung sämtlicher Rückerstattungsansprüche den Betrag von 53 000 DM bezahlte und sich verpflichtete, die jüdische Abteilung auf dem Friedhof dauernd aufrecht zu erhalten und zu pflegen. Im amtlichen Vorgang benannte die Stadt den Synagogenplatz zu dieser Zeit als "Öde". Menschenleer und sinnentleert lag die freie Fläche in der Innenstadt an der südöstlichen Ecke von Freihof- und Burgstraße. Teilweise wurde sie als Schrebergarten genutzt. Aber die Leere erzeugte auch fortwährende Aufmerksamkeit für die Fläche und sorgte für Erinnerung an das Geschehene. Diese fand aber für viele Jahre keinen Ausdruck des öffentlichen und gemeinsamen Gedenkens. Am 9. November 1963, am 25. Jahrestag der Pogromnacht, machte ein Artikel im Lokalteil der Zeitung auf das "schmachvolle Datum" aufmerksam. Acht Jahre später ließ die Stadt auf dem Platz eine Gedenktafel errichten. Sie wurde am 31. Januar 1971 enthüllt. Das Datum war bewußt gewählt: 100 Jahre zuvor war in Preßburg Aron Tänzer zur Welt gekommen, der in seiner 30jährigen Amtszeit in Göppingen als Rabbiner über die Religionsgrenzen hinweg auf sozialem und kulturellem Gebiet Brücken baute und mit seinem ehrenamtlichen Engagement Vorbildliches leistete.

Eine öffentliche Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht fand in Göppingen erstmals zum 40. Jahrestag der "Reichskristallnacht" 1978 statt. 700 Teilnehmer versammelten sich am Synagogenplatz und zogen anschließend in einem Schweigemarsch durch Freihof-, Haupt- und Schloßstraße zur Stadtkirche, um dort einen ökumenischen Gottesdienst zu feiern. Zu der Gedenkveranstaltung hatten alle politischen Parteien, Gemeinderat und Stadtverwaltung, die Kirchen, die Gewerkschaft, die Verbände von Industrie, Handel und Handwerk sowie der Kreisjugendring aufgerufen. Der Leiter der Städtischen Volkshochschule, Dr. Wolfgang Rapp, hielt am Platz der Synagoge damals die Gedenkrede. Er forderte dazu auf, sich der Geschichte zu stellen und bat die jüdischen Mitbürger "um Verzeihung für das Schweigen". Im Jahr 1988 hatte die Stadt Inge Auerbacher aus New York eingeladen, im Rahmen der Gedenkfeier eine Ansprache zu halten. Inge Auerbacher war als Kind von Göppingen in das KZ Theresienstadt deportiert worden. So wie in ihrem Buch "Ich bin ein Stern" bezog sie bei der Rede ihr persönliches Schicksal und das ihrer Familie in den Anlaß mit ein. An der Gedenkfeier nahmen auf Einladung der Stadt auch Inge Auerbachers Mutter sowie Erwin Tänzer und seine Gattin teil. In einer weiteren Veranstaltung wurde mit den Gästen die von der Stadt veranlaßte Neuausgabe des 1927 erschienenen Buchs "Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen" der Öffentlichkeit präsentiert.

In den letzten zehn Jahren bildete sich eine neue Kultur des Erinnerns heraus, deren Kennzeichen ist, daß verschiedene Gruppen zu einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung einladen und daß dieses Gedenken jährlich stattfindet.

Anhang

Dokumente, Berichte, Zeugnisse des Gedenkens

Die Einweihung der Synagoge 1881

Die Grundsteinlegung für den Synagogenbau erfolgte am 23. April 1880. Rabbiner Herz hielt bei dem feierlichen Akt eine Ansprache. Anwesend waren - wie auch bei der eineinhalb Jahre später stattfindenden Einweihung - neben den Mitgliedern der Gemeinde viele Gäste, Vertreter der christlichen Konfessionen und die Spitzen der Behörden von Stadt und Kreis. Am 16. und 17. September 1881 wurde im Rahmen eines vielfältigen Festprogramms der Neubau eingeweiht.

Die Synagoge an der Freihofstraße nach der Einweihung. Aufnahme von 1881.

Göppingen, 17. September. Gestern Abend fand hier die Einweihung der neuerbauten Synagoge statt. Erst seit kaum 30 Jahren wohnen in Göppingen Israeliten, das zuerst eine Filiale der Muttergemeinde Jebenhausen war; dieses aber hat durch Wegzug mehr als 2⁄5 seiner israelitischen Einwohner verloren, die von 500 unter 100 gesunken sind. Göppingen zählt jetzt 242 Israeliten, dieselben bildeten vor 14 Jahren eine Kirchengemeinde, und der Rabbinatssitz wurde von Jebenhausen nach Göppingen verlegt. Die Gemeinde hielt ihren Gottesdienst bis jetzt in einem gemietheten Betsaale, entschloß sich aber, ein eigenes Gotteshaus zu bauen. Sie erwarb einen passenden Baugrund in der oberen Freihofstraße; Baurath Dr. v. Leins fertigte den Bauplan und die Risse; Ingenieur Elsässer übernahm die Bauleitung, die ganze Bauzeit beträgt 1 1⁄2 Jahre. Der Bau ist im romanischen Style durchgeführt; die Baukosten betragen ca. 60 000 Mark, wodurch dem Architekten weise Sparsamkeit geboten war. Die dekorative Ausschmückung ist einfach, aber künstlerischkorrekt ausgeführt und dem ganzen Baustyle entsprechend. Der Zug vom nun verlassenen Betsaale in die neue Synagoge setzte sich um 4 1⁄2 Uhr in Bewegung, woran Schuljugend und Sängerchor, Träger der Thorarollen, Rabbiner und Kirchenvorsteher, Ehrengäste, Baukomite und Baupersonal, Gemeinden usw. Theil nahmen. Angelangt am Gartenportale wurde dem ältesten Vorstandsmitgliede, in Stellvertretung von Herrn Leins, vom Herrn Ingenieur Elsässer der Schlüssel übergeben. Der Einzug in die Synagoge geschah unter weihevollem Psalmgesange; darauf wurden die Thorarollen in die heilige Lade eingestellt, dann betrat Rabbiner Herz, der schon seit 30 Jahren das Rabbinat Göppingen-Jebenhausen verwaltet und Mitbegründer der Kirchengemeinde ist, die Kanzel, hielt die Festpredigt über einen Text aus Jeremia und legte die Bedeutung des jüdischen Gotteshauses, begründet durch passende Stichworte dar. Die Feier war sehr erhebend. Die ganze städtische Bevölkerung war vertreten. Als Vertreter der k. israelitischen Oberkirchenbehörde waren als Ehrengäste die Herren Kirchenrath Wassermann, Hofrath Levi und Herr Oberlehrer Elsässer aus Laupheim anwesend. Das Festbankett am Sabbat Abend war sehr stark besucht. Die christliche Bevölkerung der Stadt war in allen ihren Schichten vertreten. Die Toaste leitete Herr Rabbiner Herz durch eine Tischrede ein, die die Gesetzgebung Württembergs, die in Deutschland einzig in ihrer Art, schilderte, die der Synagoge gleiche Berechtigung mit den christlichen Kirchen zuerkannt hat. Er brachte sein Hoch dem König Karl aus, das freudigen Widerhall fand. Herr Kirchenrath Dr. Wassermann gab eine geschichtliche Darstellung über die hundertjährige Existenz der Muttergemeinde Jebenhausen, die jetzt fast ganz in der Tochtergemeinde Göppingen aufgegangen ist, die in industrieller Beziehung sich einen Namen in und außerhalb Deutschlands gemacht, und in der heutigen Kundgebung der Prämiirten bei der Landesausstellung glänzen israelitische Firmen aus Göppingen als Preisträger. Sein Hoch galt beiden Gemeinden. Die Toaste von christlichen Festgenossen zeugten von dem schönen friedlichen Sinn, der in der Stadt unter den drei Confessionen herrscht. Ein humoristisches Gedicht von dem Ehrengaste Alexander Elsässer schilderte seine Erlebnisse als früherer Lehrer in Jebenhausen-Göppingen und wurde mit jubelndem Beifalle aufgenommen. Das Fest legt Zeugniß davon ab, daß Antisemiten und Stöckerianer* in Süddeutschland keinen Boden haben. (Leider ist in der Synagoge eine Orgel aufgestellt, was gegen jüdisches Gesetz und Ordnung verstößt; die Juden können wie es scheint die Nachahmung fremder Sitten und Vernichtung ihrer eigenen heiligen Gebräuche noch immer nicht lassen; das ist schlimmer als Stöckerei*, weil das Judenthum hierdurch von Innen dem Ruin entgegen geführt wird).

Artikel in der Zeitung "Die jüdische Presse. Organ für die Gesamtinteressen des Judentums", 12. Jahrgang, Nr. 38 vom 22. September 1881, S. 443.

Blick in den Innenraum der neu erbauten Synagoge. Aufnahme von 1881.

Anzeige im Göppinger Wochenblatt vom 12. September 1881.

Über die Architektur der Göppinger Synagoge

Der Kunsthistoriker Harold Hammer-Schenk forschte in den 1970er Jahren über die Baugestalt der Synagogen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Seine Forschungsarbeit wurde 1981 in einem zweibändigen Buch publiziert. Diese zum Standardwerk gewordene Darstellung lenkt den Blick auf kunstgeschichtliche Fragen und auf sozial- und kulturhistorische Aspekte der Geschichte der Synagogenarchitektur.

Seit den Bauten von Semper in Dresden und Rosengarten in Hamburg war der Zentralbau für Synagogen eine viel verwendete Raumform. … Die vorherrschende Raumform innerhalb dieser Zentralbauten wird das Quadrat oder diesem angenäherte Rechtecke. Dieser Grundriß erlaubt bei allen Gemeindegrößen eine möglichst starke Konzentration um den Schrein, bzw. den Almemor, der sich ja bei fast allen Synagogen dieser Zeit im Osten befindet.

Zu den auffallendsten Bauten gehören Anlagen, die im Aufriß, im Gesamterscheinungsbild als kreuzförmig erscheinen, obwohl sie fast immer über quadratischem Grundriß errichtet worden sind. Die Bevorzugung eines bestimmten Stils ist nicht zu erkennen, bzw. die Aussage muß dahingehend modifiziert werden, daß sowohl romanische als auch orientalisierende Anlagen dieses Typs auftauchen. Auffallendstes Kennzeichen ist fast immer ein zentraler Turm bei den romanischen Bauten und eine Kuppel bei orientalisierenden Synagogen. Vielfach werden die Eckenbei diesen Bauten durch Türmchen, kleinere Kuppeln oder Aufsätze betont.

* Das Schlagwort "Stöckerei" spielt auf den evangelischen Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) an, der u. a. durch die Gründung der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus bewirkte.

Das Beispiel der Göppinger Synagoge soll die Reihe dieser Bauten einleiten. Von 1880 bis 1881 errichtete Christian Friedrich von Leins, Professor an der Technischen Hochschule in Stuttgart den Neubau, der sich über quadratischem Grundriß erhebt. Diesem Quadrat, das den Kultraum mit dreiseitig umlaufenden Emporen für die Frauen enthielt, wurde ein querrechteckiger Westbau vorgelegt, der im Untergeschoß die Eingangshalle, ein Sitzungszimmer mit Garderoben und im Obergeschoß die Orgelempore beherbergte. Im Äußeren war der Kultbau durch Lisenen und Gesimse, sowie Maßwerkfenster gegliedert; ein Quergiebel deutete eine kreuzförmige Raumgestalt an. Über der "Vierung" erhob sich, auf achtseitigem Tambour, eine hohe Kuppel. Der im Äußeren basilikal wirkende Westvorbau öffnete sich in einer hohen, rundbogig geschlossenen, von einem dreieckigen Giebel überfangenen Eingangshalle. Der Emporenraum darüber wiederholte das Motiv, wobei ein Rundfenster mit Sechspaß für die Beleuchtung sorgte. Den Giebel krönten die Gesetzestafeln. Die Synagoge lag am Rande des Stadterweiterungsgebietes des 19. Jahrhunderts, nahe an der alten Stadt, innerhalb eines größeren Gartengrundstücks, von der Straße zurückgesetzt. Demzufolge wurde die Synagoge in den Tageszeitungen auch gewürdigt: "Im schönsten Teil der Stadt, … mitten zwischen den Kirchen der beiden Konfessionen, erhebt sich seit einiger Zeit ein Bau, dessen Stil und himmelanstrebende Kuppel dem Beschauer schon von ferne anzeigen, daß er zu einem Gottesbau bestimmt sei …" Die Festlegung des Gebäudes als Kultbau ist nicht so sehr aus der Bautradition des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar, sondern aus der Kenntnis der Vorbilder. In vielen räumlichen Merkmalen weist der Bau auf die Renaissance Italiens; besonders im Eingangsbereich ist an Haupt- und Seitenfassade von S. Andrea in Mantua zu denken. In der Gesamtwirkung ist die Synagoge zeitgenössisch allerdings als "romanisch" empfunden worden, ein nur schwer zu erklärendes Phänomen, da bis auf die Rundfenster kaum ein Detail auf diesen Stil verweist.

Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert. Teil 1. Hamburg 1981, S. 353f.

Die Lokalzeitung berichtet über die Pogromnacht nur am Rande

Die gewalttätigen Ausschreitungen fanden in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag statt. In der Freitagsausgabe der Zeitung wurden in einem Kommentar auf der Titelseite die Vorkommnisse als "der Ausdruck einer gerechten Empörung der breitesten Schichten des deutschen Volkes" dargestellt. Ein kürzerer Abschnitt am Schluß lenkte den Blick auf die eigene Stadt. Ein ausführlicher Bericht über die Zerstörung der Synagoge und die anderen Gewalttaten erschien im Lokalteil der Zeitung nie.

Die Geduld ist zu Ende. Die ungeheure Empörung, die das deutsche Volk bei der Nachricht vom Tode des von feiger jüdischer Mörderhand niedergemeuchelten jungen deutschen Diplomaten bemächtigte, hat sich in allen deutschen Gauen in spontanen Kundgebungen gegen das Judentum Luft geschafft. Dabei sind, wie die Meldungen aus dem Reiche besagen, ebenso wie in der Reichshauptstadt selbst in vielen Städten die Schaufenster jüdischer Ramschläden von empörten Volksmassen zerstört worden, und auch einige jüdische Tempel, in denen die Lehre des Talmud, Haßgesänge gegen alles Nichtjüdische verbreitet wurden, sind in Flammen aufgegangen. Das Judentum hat damit zum erstenmal eine deutliche Antwort auf seinen seit Jahren währenden Feldzug des Hasses und der Verleumdung gegen das Deutschtum in der ganzen Welt, dessen Opfer Wilhelm Gustloff und jetzt auch Parteigenosse vom Rath wurde, erhalten. Jahrelang hat das deutsche Volk leidenschaftslos die täglichen Beschimpfungen des Judentums der ganzen Welt über sich ergehen lassen. All der Schmutz und Dreck, der von den bekannten Emigrantenzentralen von Paris, London, Neuyork fabriziert und von dort in die jüdisch beeinflußte Weltpresse geleitet wurde, hat uns nicht bis an die Schuhsohlen reichen können. Wir wissen, daß die jüdischen Machenschaften in der Welt das deutsche Volk vor kurzem an den Rand des Krieges gebracht hatten. Auch dieser Möglichkeit hat das Volk kaltblütig und entschlossen entgegengesehen. Einmal tritt jedoch der Augenblick ein, da ist die Geduld zu Ende. Der Mordbube Grünspan hat höhnisch bekannt, daß er im Namen des ganzen Judentums geschossen hat und daß er in dem unschuldigen Opfer seiner Rachsucht das deutsche Volk treffen wollte. Kein Jude kann sich von dieser Blutschuld reinwaschen, sie mögen sich winden und drehen, wie sie wollen.

Was sich in den letzten 24 Stunden in Deutschland abgespielt hat, ist der Ausdruck einer gerechten Empörung der breitesten Schichten des deutschen Volkes. Es kann nicht als Vergeltung gewertet werden. Ein Mord ist nicht durch zersplitterte Fensterscheiben oder vielleicht ein paar wohlverdiente Ohrfeigen für herausfordernde Judenlümmels zu sühnen, das deutsche Volk ist auch viel zu diszipliniert, als daß es sich zu irgendwelchen "Racheakten" hinreißen ließe. Wer Zeuge der Kundgebungen war, muß sich vielmehr über die bewundernswerte Disziplin, die trotz der unerhörten Empörung über die schamlose feige Mordtat von den Massen eingehalten wurde, wundern. Es ist nicht zu "Progromen" gekommen, wie die jüdisch-marxistische Auslandspresse am Tage zuvor bereits ankündigen zu können glaubte.

Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Volk weiterhin Disziplin bewahrt. Die Ereignisse mögen dem Weltjudentum jedenfalls aber zeigen, daß das deutsche Volk nicht länger mit sich spielen läßt. Wenn man gegen deutsche Volksgenossen, ja selbst gegen die amtlichen Vertreter des Reiches die Mordwaffe erhebt, dann kann man nicht erwarten, daß die Rassegenossen in Deutschland mit Samthandschuhen behandelt werden. Auf dem Wege der Gesetzgebung wird das Judentum, wie Dr. Goebbels ankündigte, die endgültige Antwort auf die feige Mordtat in Paris erhalten.

Auch in Göppingen hat das Judentum die gebührende Antwort erhalten. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, daß die Synagoge in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag abgebrannt ist. Wir haben - um auf viele Anfragen zu antworten - darauf verzichtet, schon in der gestrigen Ausgabe darüber zu berichten, weil wir erst die restlose Klärung der Dinge abwarten wollten.

Das ruchlose Verbrechen Judas, das das junge Leben unseres Parteigenossen vom Rath ausgelöscht hat, löste, wie allgemein festzustellen war, schon am 9. November auch bei der Bevölkerung unserer Stadt tiefstes Mitgefühl für Pg. vomRath, zugleich aber auch höchste Empörung und Zorn über die niederträchtige Judentat aus, die ihren spontanen Ausdruck in Demonstrationen und Zusammenrottungen vor verschiedenen Judengeschäften fanden. Dabei gingen einige Schaufenster in Scherben. Die kleinen Zwischenfälle, zu denen es kam, stehen aber bei weitem in keinem Verhältnis zu der ungeheuren Blutschuld, die Juda erneut auf sich geladen hat und für die die Fremdlinge insgesamt und einzeln verantwortlich sind. Die spontanen Volkskundgebungen, mit denen eindeutig zum Ausdruck kam, daß das deutsche Volk auch in der Zukunft den schärfsten Kampf gegen das jüdische Weltverbrechertum zu führen gewillt ist, veranlaßten schließlich die Behörden im Einvernehmen mit der Partei, die männlichen Juden in vorläufige Schutzhaft zu nehmen. Dabei hat sich eine angesichts der Schwere der jüdischen Bluttat an und für sich durchaus nicht selbstverständliche Disziplin erneut unter Beweis gestellt. Denn alle Verhafteten wurden, ohne daß ihnen ein Haar gekrümmt wurde, denBehörden zugeführt. Es erübrigt sich zu erwähnen, daß sich kein Deutscher an schmutzigem Judengut vergriff. Ein Wort der Anerkennung verdient in diesem Zusammenhang die Göppinger Feuerwehr, die beim Brand der Synagoge durch tatkräftigen Einsatz ein Uebergreifen des Feuers auf andere Gebäude verhinderte. Auch die Tätigkeit der Technischen Nothilfe muß hervorgehoben werden. Aus Sicherheitsgründen ist es notwendig geworden, die Mauerreste der Synagoge sofort zu beseitigen. Dieser Arbeit hat sich gestern und heute die Technische Nothilfe unterzogen.

Bericht in der Tageszeitung "Der Hohenstaufen - Göppinger Zeitung", Nr. 265 vom 11. November 1938.

Parteiideologische Weisungen nach den November-Ausschreitungen

Am 28. November 1938 versammelte sich die Ortsgruppe Ost der Göppinger NSDAP im Dreikönig-Saal zu ihrer Mitgliederversammlung. Bei dieser Gelegenheit behandelten Ortsgruppenleiter Finkbeiner und Kreisleiter Baptist in ihren Ansprachen "verschiedene Göppinger Vorgänge". Aus den Ausführungen Finkbeiners wird deutlich, daß der Pogrom gegen die Juden und die danach einsetzende Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben vielfach auf Ablehnung stieß, in der Bevölkerung und wohl auch im Kreis der Parteimitglieder. Daraus leitete Finkbeiner die Forderung ab, "die unverbesserlichen Meckerer aus der Volksgemeinschaft auszumerzen". Sein Appell: "Die Lösung der Judenfrage ist für jeden anständigen Menschen ein Grund zur Freude. Wer Mitleid mit den Juden empfindet, kann kein Deutscher sein. Wenn heute den Juden etwas genommen wird, dann ist das ja nur ein Bruchteil von dem, was sie bei uns seither zusammengeschnarrt und ergaunert haben. Der Vorwurf der Unchristlichkeit ist da nicht berechtigt."

Im Anschluß sprach Kreisleiter Baptist. Seine um einiges in der Wortwahl aggressivere Rede druckte die Zeitung weitgehend im Wortlaut ab. Baptist agitierte gegen die "Saboteure" und "Volksverräter", von welchen er die "innere Einigkeit" des Volkes gestört sah - ganz so, wie es "im früher sozialdemokratisch-demokratisch- jüdisch-marxistisch verseuchten Filstal" der Fall war. Mit der Drohung, "zu noch schärferen und fühlbaren Maßnahmen" auch selbst gegen diejenigen, die mit den Betroffenen Mitleid haben, zu greifen, legte er die nationalsozialistische Sicht der "Lösung des Judenproblems" dar. Seine Ausführungen gipfelten in der Forderung: "Alle Juden heraus aus unserer Heimatstadt!"

Die Strafe folgt jedenfalls von nun ab auf dem Fuße aus dem Volk heraus! Das nämliche gilt für die Judenfrage. Wer kein Verständnis dafür hat, daß durch rächende Hände deutscher Menschen Synagogen, Brutstätten alttestamentarischen Hasses, verschwinden und die anmaßenden Schaufensterauslagen der Judengeschäfte wie bei dem Wunder von Jericho schwanken und bersten ließen, ohne daß sich, wie die Juden und ihre bolschewistischen Henkersknechte in allen Zeiten es taten, irgend jemand auch nur an einem Reißnagel des Judenbesitzes bereicherte, der mag sich dem nunmehr immer stärker werdenden Zuge nach dem Lande Kanaan oder nach Guyana anschließen, der mag jenen Gesellschaft leisten und auf die Großmütigkeit rechnen, die bis heute jenen widerfahren ist, er wird dann lernen müssen, daß wir allein das Judenproblem richtig erkannten, als wir als Volk die Antwort auf die Folgen der verbrecherischen Schüsse des Wüstensohnes Grünspan antworteten.

Der Kreisleiter kam in diesem Zusammenhang auf die "goldenen Worte" großer Deutscher zur Judenfrage zu sprechen, die schon in früheren Zeiten das Volk zur größtmöglichen Wachsamkeit gegenüber den jüdischen Parasiten mahnten. Um so unfaßbarer ist es, daß es da und dort heute noch gewisse "Herren" gibt, die nichts Besseres zu tun wissen, als Juda mit den eigenen Sprüchen der Juden zu rühmen. In diesem Zusammenhang erklärte der Kreisleiter: "Wenn im Oktober 1938 in einer Predigt der Herr Dekan Stahl sagte, daß "trotz allem das Heil von den Juden" komme, so können wir nur sagen, daß solche "goldenen Worte" wohl mit "Grünspan" überzogen sind. Wenn dieser Herr glaubt, daß das Heil von den Juden kommt, dann mag er es sich, in Blei gegossen, ebenfalls von dem Juden Grünspan geben lassen.

Wenn die innere Einstellung zur Judenfrage bei uns immer klar gewesen ist, so hat das bei manchen Zeitgenossen recht lange gedauert! Es ist ein harmloser Witz und doch bezeichnend für die innere Leere der geistigen Urheber, wenn 14 Tage nach dem 9. November 1938 endlich zwei Rückständige erwachen und, nachdem die meisten rasierfähigen Juden nicht mehr ortsanwesend sind, deren Eintritt durch ein schüchternes Plakätchen an der Geschäftstüre als unerwünscht bezeichnen! Ob der Erfolg wohl 100prozentig war?

Was 100prozentig ist, will ich Ihnen sagen: In Göppingen sind 34 Juden ganz freundlich abgeholt worden. Von ihnen sind 7 gleich wieder entlassen worden, ohne daß ihnen etwas geschehen ist. Die übrigen 27 bekamen einen bestimmten Aufenthaltsort zugewiesen. Aber auch von diesen sind einige, die die Schiffskarte schon in Aussicht hatten, inzwischen wieder zurückgekehrt. Anderen hat man durch Entlassung die Möglichkeit gegeben, ihre Geschäfte möglichst schnell abzustoßen. Der Kreisleiter machte dann Mitteilung über den Stand der Judengeschäfte-Abwicklung in Göppingen, um dann zu erklären: 100prozentig sollen und werden unsere Forderungen auch in Göppingen in Erfüllung gehen. Sie lauten: Alle Juden heraus aus unserer Heimatstadt!

1. Nie mehr eine Synagoge in Göppingen!

2. Alle Juden heraus aus unserer Heimatstadt. Wir haben immer noch 200 von ihnen.

3. Keine Juden dürfen mehr in deutschen Geschäften kaufen. Sie sollen nur noch in eigenen Verkaufsstellen das holen können, was sie brauchen!

4. Kein Handwerker mehr, kein Geschäftsmann mehr, keine Hausgehilfin mehr zur Handreichung für einen Juden!

5. Keine Juden mehr als Untermieter bei Ariern und umgekehrt. Juden sollen bei Juden wohnen. Arier bei Ariern!

6. Also vollkommene Trennung des Lebens zwischen Juden und Deutschen!

7. Keinen einzigen Judenknecht mehr!
Das alles ist zum großen Teil Aufgabe von Schulung und Erziehung.

Aus dem Bericht in der Lokalzeitung "Der Hohenstaufen - Göppinger Zeitung", Nr. 279 vom 29. November 1938.

Dr. Gebhard Müller, Ministerpräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, schildert seine Erlebnisse während der Pogromnacht in Göppingen

Beim Prozeß zur Synagogen-Brandstiftung wurde Ministerialdirektor Dr. Gebhard Müller als Zeuge geladen. Dr. Müller, damals im Justizministerium in Tübingen tätig, verfaßte am 16. Juni 1948 eine schriftliche Stellungnahme.

Vom 1.1.1934 bis 31.12.1938 war ich als Amtsrichter beim Amtsgericht Göppingen beschäftigt. In der Brandnacht, 8./9. November 1938 (gemeint ist die folgende Nacht, Anm. des Verf.), hatte ich Bereitschaftsdienst. Es war üblich, daß der diensthabende Richter bei schweren Kriminalfällen sich an den Tatort begeben hat, um eventuell unaufschiebbare richterliche Anordnungen sofort treffen zu können.

Ohne daß von irgend einer amtlichen Seite eine Aufforderung an mich ergangen wäre, habe ich mich, durch den starken Feuerschein aufmerksam geworden, an die in der Nähe meiner Wohnung (Christophstraße 22) gelegene Brandstelle begeben. Beim Überqueren der Burgstraße fiel mir ein Mann in Zivil auf, der laut schreiend die Häuser auf und ab lief und die aus den Fenstern schauenden Personen aufforderte, die Fenster zu schließen, auch einige Schüsse abgegeben hat. Es war nach Mitternacht. Die genaue Zeit kann ich nicht mehr angeben. Als ich noch etwa 50 Meter von der Synagoge entfernt war, trat ein Zivilist auf mich zu und fragte mich, was ich hier zu suchen hätte. Ich erwiderte ihm, daß ihn das nichts angehe. Er forderte mich auf, sofort zu verschwinden und hielt mir eine Pistole entgegen. Auf meine Drohung, ihn verhaften zu lassen, entfernte er sich. Vor der brennenden Synagoge selbst standen einige Gruppen von Personen, von denen ich aber lediglich Landrat Nagel und den Führer der Feuerwehr, Keuler, kannte. Auf meine Frage, was eigentlich los sei, erklärte mir Landrat Nagel, daß er genaue Weisungen von Stuttgart habe, es dürfe nicht gelöscht werden. Auf weitere Anfragen nach den vermutlichen Tätern und die Zusammenhänge konnte ich keine Auskünfte erhalten. Nach einiger Zeit entfernte sich Landrat Nagel und begab sich in die in unmittelbarer Nähe gelegene Wohnung eines ihm offenbar persönlichen bekannten Bankiers (Hess oder Martin?). Er konnte vom Fenster dieser Wohnung aus den weiteren Verlauf beobachten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Polizeibeamte am Ort waren …

Als ich am Brandort erschien, stand die Synagoge in hellen Flammen. Ich glaube nicht, daß es auch bei intensivem Einsatz der Feuerwehr in diesem Zeitpunkt noch möglich gewesen wäre, mehr als die Umfassungsmauern zu retten. Der Kommandant der Feuerwehr, Keuler, hat mir gegenüber in dieser Nacht offen seine Abscheu gegen die Aktion zum Ausdruck gegeben. Ich hatte durchaus den Eindruck, daß er auch innerlich die ganze Sache auf das schärfste abgelehnt hat, während Landrat Nagel jedenfalls mir gegenüber kein Wort der Verurteilung fand. Ich habe mich bemüht, Anhaltspunkte bezüglich der Brandstifter zu erhalten. Lediglich Keuler hat mir gesagt, daß es sich nach seinen Feststellungen um SA-Männer aus Geislingen handle, die eigens zu diesem Zweck nach Göppingen beordert worden seien. Er meinte noch, es seien allerdings keine "gewerbsmäßigen Brandstifter". Durch ihre Ungeschicklichkeit bei der Brandlegung wären sie beinahe ums Leben gekommen. Sie hätten große Mengen Benzin in die Synagoge ausgeschüttet, das Benzin sei teilweise verdunstet gewesen, als sie die Brandmaterialien angezündet hätten, so daß der Brand explosionsartig entstanden wäre und sie sich kaum mehr aus der Synagoge hätten retten können. Nähere Personalien bezüglich der Täter konnte ich nicht feststellen.

Meine Beobachtungen habe ich dem Vorstand des Amtsgerichts, Herrn Amtsdirektor Nägele mündlich mitgeteilt. Soweit ich mich erinnere, habe ich ihm auch einen schriftlichen Bericht erstattet, den er vermutlich der Staatsanwaltschaft Ulm weitergeleitet hat. Letzteres weiß ich allerdings nicht sicher.

Staatsarchiv Ludwigsburg, Bü 19 236, Prozeßakten Baptist u. a.

Amtsrichter Dr. Gebhard Müller wurde nach dem Krieg zum Miterbauer und -gestalter der neuen demokratischen Gesellschaft und ihrer staatlichen Instanzen - als Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern, als Mitbegründer des Landes Baden-Württemberg und dessen Ministerpräsident von 1953 bis 1959 sowie als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. In einem Gespräch mit dem Intendanten des Süddeutschen Rundfunks, Herrn Prof. Hans Bausch, am 16. Mai 1980, das zum 80. Geburtstag des Staatsmanns gesendet wurde, kam Dr. Müller nochmals auf sein Erleben der Pogromnacht in Göppingen zu sprechen.

Müller: Ich habe auch als Richter im Kollegenkreis nie aus meiner Überzeugung Hehl gemacht. Ich bin allerdings insofern enttäuscht worden, als ein oder zwei Kollegen einige Bemerkungen über Nationalsozialismus, über Hitler usw., die ich gemacht habe - abfällige Bemerkungen - der Kreisleitung gemeldet haben, worauf ich gezwungen wurde, mich von Göppingen wegversetzen zu lassen. Ich wurde dann nach Stuttgart versetzt, was ich eigentlich als Bevorzugung empfunden habe. Ich hatte dann noch Schwierigkeiten - zufällig hatte ich Bereitschaftsdienst an dem Tag, an dem die Synagoge in Göppingen angezündet wurde …

Bausch: … also, das muß in der Nacht vom 8. auf den 9. November '38 gewesen sein ...

Müller: … 9. November '38. Und ich wohnte in der Nähe der Synagoge, bin an den Brandplatz geeilt, wie es Vorschrift war für Bereitschaftsrichter. SS wollte mich abhalten. Ich hab' mich legitimiert. Dann haben sie aber trotzdem auf mich geschossen, aber wahrscheinlich nicht zielen wollen. Haben auch nicht getroffen. Ich habe dann versucht, die Feuerwehr, die da war, mit Landrat, Polizeidirektor usw. zum Eingreifen zu veranlassen - ohne Erfolg. Ich habe den Herrn dann gedroht, ich werde Anzeige erstatten. Das hatte ja noch keinen Erfolg. Ich bin dann später im Entnazifizierungsverfahren dieser Herrn gehört worden. Ich habe dann an die Staatsanwaltschaft einen Bericht gemacht, eine Anzeige wegen erschwerten Landfriedensbruchs, Brandstiftung usw., aus der allerdings nichts geworden ist. Mir ist nichts bekannt geworden. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum man meine Versetzung aus Göppingen betrieben hat. Ich bekam dann in Stuttgart ein mehr neutrales Referat. Die Tatsache, daß ich erklärter Gegner des Nationalsozialismus vor '33 war, war - so merkwürdig das klingt - auch ein gewisser Schutz. Man hat von mir nicht erwartet, daß ich mich irgendwie aktiv für den Nationalsozialismus einsetze. Ich hab' das auch abgelehnt, als im Jahr 1944 ein letzter Erlaß des Oberlandesgerichts-Präsidenten kam, der Führer habe gnädigst geruht, die Partei nochmals für Richter zu öffnen. Dies sei die letzte Möglichkeit. Allerdings werde auch die tätige Mitwirkung verlangt. Nach der kurz bevorstehenden siegreichen Beendigung des Krieges werde kein Richter mehr im Staatsdienst geduldet, der nicht Mitglied der Partei sei. Da ich der Meinung war, daß nicht die siegreiche Beendigung des Krieges, sondern die totale Niederlage kurz bevorsteht, habe ich also von dem Angebot keinen Gebrauch gemacht.

"Gebhard Müller blickt zurück", Archiv des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart.

Der Feuerwehrkommandant Karl Keuler verliert sein Amt

Die Feuerwehr beim Ablöschen der Brandnester und sichern der Brandruine.In der Pogromnacht und danach ließ der Feuerwehrkommandant seine Verabscheuung des Verbrechens sich anmerken. Wegen seiner kritischen Haltung mußte er schließlich sein Ehrenamt bei der Feuerwehr beenden.

Keuler: Am andern Morgen, also nach der Brandnacht, kam dann vom Landratsamt einer, den Namen weiß ich nicht mehr, und sagt, ich soll das ablöschen, also die Brandnester. Ich hab's abgelehnt und zu ihm gesagt, er soll die holen, die es angezündet haben, die sollen es ablöschen. Das hat er natürlich nicht gemacht. Ich gab dann einem Offizier, einem Leutnant Jauß den Befehl, er solle das Zeug ablöschen. Also ich selber bin da nicht mehr raufgegangen.

Rueß: Und nachher hat das Technische Hilfswerk die Ruine vollends gesprengt und hat dann die Steine und den Schutt abgefahren.

Keuler: Ja, das war eine üble Sache.

Rueß: Sie kamen damit auch in Probleme, das hatte ja auch mit ihrem späteren Rücktritt als Kommandant zu tun. Hat man Sie das spüren lassen, daß Sie nicht mehr erwünscht waren in dieser Funktion?

Keuler: Ja, anschließend haben sie mir in die Schuhe geschoben, ich fahre mit meinen Kameraden raus aufs Land zu Saufgelagen usw. - das war alles erstunken und erlogen -, ich sei überhaupt nicht fähig, die Feuerwehr zu leiten. … Und das ging ja so weit, daß ich einen Brief bekam von Dr. Pack, der mir geschrieben hat, vom Landratsamt sei ein Brief gekommen, daß es untragbar sei, mit mir zusammenzuarbeiten, da ich alle Befehle, die von oben kämen, ignoriere. Das hat zum Teil gestimmt, zum Teil auch nicht. Und ich soll also meinen Abschied nehmen, ich soll verschwinden. Ich habe das dann nicht gemacht, sondern ich hab zurückgeschrieben: Ich gehe erst weg, nachdem ich eine Korpsversammlung abgehalten habe. Und das habe ich dann auch gemacht. Meine Kameraden waren alle dagegen, daß ich gehe. Ich gehe erst weg, wenn die alle Anwürfe, die meine Ehre berühren, zurücknehmen. Das haben Sie dann gemacht, und dann bin ich weggegangen. Und von diesem Tag an hab ich mit der Feuerwehr nichts mehr zu tun gehabt.

Nachdem dann die Amerikaner da waren, da mußte ich ja sogleich - morgens haben sie mich vorgeführt - da runter. Und der Vorsitzende war ein Jude, der hat mich vernommen. Da hab ich diesen Schrieb, den ich gemacht habe, den hab ich damals mitgenommen und vorgelegt. Das haben die alles nachgeprüft, sonst hätten sie mich sofort eingesperrt.

Stadtarchiv Göppingen, Auszug aus einem Tonbandmitschnitt eines Gesprächs mit Karl Keuler am 26. Mai 1994.

Erinnerungen der Opfer

Zur Mitte der 1960er Jahre hatte sich Georg Weber "Zeugnisse der Judenverfolgung im Kreis Göppingen" als Thema seiner II. Dienstprüfung für den Schuldienst gewählt. Sein Arbeitsfeld stellte er auch ehemaligen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde vor, soweit er über Anschriften verfügte. Viele der Antwortenden fanden dieses Vorhaben erfreulich, andere antworteten mit dem Heine-Zitat "Denk ich an Deutschland in der Nacht …" Wenn in den Briefen die erlittene Diffamierung und Verfolgung zur Sprache kommt, dann fehlen nie die Gewalttaten der Pogromnacht.

Antwort von Justin Heumann aus Caracas/Venezuela vom 14. Oktober 1966:

Sehr erstaunt, hier nach meinem Wiederzurückkommen von einer Deutschlandreise Ihren Brief vorzufinden; und sehe nicht ein, warum gerade ich Ihnen von dem Schandfleck in der deutschen Geschichte berichten soll. Ich bin noch Deutscher oder besser gesagt wieder Deutscher, nachdem mich ein gewisser Adolf Hitler, Nationalität "Österreicher", ausgebürgert hatte. Überdies bin ich mit einer Venezulanerin, nicht ganz weiß, verheiratet und habe vier Söhne, die auch Venezulaner sind. Wenn Sie es interessiert, meine Frau ist katholisch, und die Kinder auch. Da für mich alle Menschen gleich sind, wenn sie dieselbe Erziehung und Bildung haben, ganz egal ob schwarz/weiß/rot oder schwarz/rot/gelb. Doch dies nur nebenbei. Was Sie mir schreiben, "Alles" soll vertraulich behandelt werden, ist unnötig. Sie können es unter meinem Namen in die Zeitung setzen, denn ich bin gewohnt nur die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen, wie es ein gewisser Hitler, Goebbels und Konsorten gemacht haben. … Die sogenannte Kristallnacht, wie sie so wunderschön heute in Deutschland genannt wird, habe ich auch miterlebt und werde sie aus meiner Perspektive schildern:

In der Kristallnacht kam ich also so gegen 11-12 Uhr nachts nach Göppingen, legte mich schlafen. So gegen 2 Uhr wurde ich also durch Läuten und Klopfen an der Haustüre geweckt. Und als ich aufmachte, standen vor der Türe ein SA-Mann und ein Schupo. Die sagten, ich und mein alter Vater - damals über 65 Jahre alt - sollten sofort mitkommen. Der SA-Mann wollte, trotz der Kälte, mich im Nachthemd mitnehmen, aber der Polizist war noch so anständig, daß er mich Kleider anziehen ließ und das unter ständigem Schimpfen des SA-Mannes, der nicht von Göppingen, sondern in einem Autobus von der Gegend zwischen Ulm und Ravensburg von der SA abkommandiert für diese Aktion war. Dann sah ich, daß es in der Nähe brannte, denn die Synagoge wurde angezündet, und das mit Benzin, das die SA-Leute, die nicht mal von Göppingen waren, bereithielten. Und da in Göppingen die Feuerwehrhalle direkt neben der Synagoge war, standen einige SA-Leute bewaffnet vor der Halle, damit die Feuerwehr ihre Pflicht nicht erfüllen konnte.- Um nun über meine sogenannte Schutzhaft weiterzusprechen:

Damals wurde ich mit meinem lieben Vater in das damalige Hotel Dettelbacher, jüdisches Hotel, gebracht, wo wir dann überwacht und am Morgen ein Teil ins Polizeigefängnis, der andere ins Amtsgefängnis überführt wurde. Leider habe ich den schlechteren Teil erwischt, das Amtsgefängnis, wo wir nur die Gefangenenkost bekamen. Mein alter Vater wurde dann nach 2 Tagen nach Hause entlassen (es hieß, alle alten Männer über 60 Jahre kommen nicht nach Dachau, was allerdings nicht in allen Gegenden eingehalten wurde, denn ich habe dann in Dachau Männer über 70 Jahre gesehen). Ich wurde dann mit anderen Glaubensgenossen unter Bewachung nach Dachau gebracht. In Dachau verbrachte ich circa 6 Wochen. Doch dies ist ein Kapitel für sich, welches ich nun auf der nächsten Seite schildern werde.

Dachau: ein Bild deutscher Ethik, deutscher Disziplin, deutschen Heldenmutes, deutscher Vaterlandsliebe, deutscher Reinlichkeit des damaligen 1000jährigen deutschen Reiches, des kleinlichen Judenhassers Adolf Hitler und Konsorten. Nach 2 Tagen Gefängnishaft im Amtsgefängnis wurden wir in einem Omnibus der damaligen Göppinger Omnibusgesellschaft nach Dachau gebracht. … Die Bewachung bei der Reise war SA und Polizei. Abends kamen wir in Dachau an und wurden von der SS mit Ohrfeigen und Schlägen empfangen. Ich kam noch gut dabei weg. Anscheinend wurde ich mit dem Chauffeur verwechselt, der dann die Schläge dafür bekam. Wie ich später erfahren habe, wurde er dann beiseite genommen und gedroht, daß es ihm schlecht gehe, wenn er davon erzähle. Dann wurden wir aufgestellt in Reih und Glied und alle Namen vorgelesen, mit Beruf. Die Kaufleute, Industriellen, Viehhändler, wurden Volksbetrüger genannt und geschlagen, dann mußten wir wieder antreten und warten, bekamen nichts zu essen, nichts zu trinken (es wurden nur immer wieder Neue eingeliefert), so ging das bis circa 1, 2 Uhr nachts. Dann wurden wir in einen Raum geleitet, der normalerweise vielleicht für 100 Personen ist. Wir waren circa 3 000 oder 4 000 Mann, wie Sardinen in einer Büchse übereinander und untereinander und ein Geschrei. Das war fast nicht mehr auszuhalten. Dann kam die SS mit gezogener Pistole und sagte, wenn es jetzt keine Ruhe gibt, werden wir mal in den Haufen hineinschießen. Dann allerdings gab es Ruhe. Am nächsten Tag mußten wir wieder im Hof antreten. Immer wieder ein Stückchen vor und warten, warten, ohne zu essen und zu trinken, und ohne die Notdurft zu verrichten, bis gegen Abend des nächsten Tages. Dann gab es bißchen Tee und ein Stück Kommißbrot, trocken und alt. Dann kam endlich die Reihe an uns. Wir mußten uns nackt ausziehen, die Kleider und Schuhe kamen zu einem Sack mit dem Namen und mußten dann in einen anderen Raum, wo wir mit eiskaltem Wasser abgespritzt wurden. Dann kamen wir in einen anderen Raum und wurden glattgeschoren wie Zuchthäusler. Dann bekamen wir Zwillichkleider, gestreift, mit dem Judenstern und wurden in Blocks eingeteilt, und zwar 400 Mann in einen Block, wo wir dann in der Nacht schlafen mußten und auch unsere Notdurft verrichten konnten, auch waschen, duschen usw. Aber in der Nacht war es sehr kalt, denn es war Ende November, Anfang Dezember. Morgens um 4 Uhr Appell, aufstehen, anziehen und um 5 Uhr auf dem großen Platz vorne antreten. Dann Stillstehen, und das wurde so lange wiederholt, bis es mehr oder weniger militärisch perfekt war. Einmal abends waren es circa 3-4 Stunden, denn es klappte anscheinend nicht richtig, und der oberste SS-Sturmbannführer ließ es immer wiederholen und dies bei 20° unter Null. Dabei sagte er immer Euer Stillgestanden ist, wie wenn eine Ziege auf Wellblech scheißt. Dazu leuchteten immer die beweglichen Scheinwerfer in allen Richtungen von den Wachtürmen, wo immer 2 Mann SS Wache standen mit eingebauten beweglichen Maschinengewehren. Ein imposanter Anblick, aber nicht übermäßig beruhigend für uns Schutzhäftlinge. Tagsüber mußten wir marschieren, antreten, Freiübungen machen, speziell Kniebeugen, und das bis zu 3 Stunden. Wer das Kreuz nicht gut durchgedrückt hatte, bekam eins oder mehrere mit dem Fuß auf den Hintern. War der Aufsichtsmann oder -männer etwas edleren Charakters, bekam man nur Ohrfeigen: Mittags bekam man Essen, aber nicht sehr viel, da das Lager für diese Masse Menschen nicht vorbereitet war. Das Essen war einfach, aber soweit genießbar. Morgens Kaffee mit Kommißbrot, Mittagessen, abends Wurst, Salzheringe oder Käse. Am ersten Samstag wurden die Rabbiner und Kantores aufgerufen, schon morgens in der Frühe; sie waren sehr erfreut darüber, weil sie glaubten, sie dürften ihren Sabbat einhalten. Aber welcher Irrtum! Sie mußten die Latrine reinigen und sonstige Drecksarbeit machen.

Eines Tages beim Kniebeugenmachen kam der General von Epp zur Inspektion und sah zu, wie wir beim Kniebeugenmachen ab und zu eins ins Kreuz bekamen. Der Zufall wollte, daß er dann sah, wie ein früherer Hauptmann (jüdisch) von einem SS-Mann eine gelangt bekam; und nachdem dieser Hauptmann im 1. Weltkrieg unter ihm gedient hatte und sogar das Eiserne Kreuz 1. und 2. Ordnung, und sogar noch Tapferkeitsmedaillen und sonstige Auszeichnungen hatte, den SS-Mann zusammenstauchte und dieser Hauptmann nach wenigen Tagen aus Lager Dachau herauskam. Mehr weiß ich nicht von ihm, denn ich mußte noch einige Zeit drin bleiben. Fast jeden Tag wurde der eine oder andere gerufen und zwar auf das Büro, wo ihm dann nahegelegt wurde, sein Geschäft, seine Fabrik oder sonstigen Eigentümer, wie Automobile, Häuser etc. zu Schandpreisen an die Herren von der Nazi-Partei zu verkaufen, um dadurch den Aufenthalt in Dachau etwas abzukürzen. Gut, ich kam dann nach 6 Wochen Ferienaufenthalt in Dachau wieder nach Hause, wo ich dann erfahren habe, daß unser Geschäft in Göppingen von meinem Vater verkauft worden ist, damit ich wieder nach Hause kommen durfte. Vor unsererAbfahrt in Dachau wurden uns von einem SS-Führer Verhaltungsmaßregeln mit auf den Weg gegeben, und zwar: Wandert so schnell wie möglich aus, sonst kommt ihr wieder zurück nach Dachau! Sagt keinem Bekannten etwas von eurem Ferienaufenthalt, sonst kommt ihr wieder zurück nach Dachau! Doch wenn ihr dann ausgewandert seid im Ausland, dann könnt ihr es ruhig erzählen, denn die wissen, daß die Juden nur Greuelmärchen erzählen. Und von jetzt ab müßt ihr Euch jeden Tag auf der Polizei melden! - Wir haben auch jeder eine Judenkennkarte bekommen. Zur Zeit des Judensterns war ich Gott sei Dank nicht mehr in Deutschland. Denn ich bin dann mit dem Schiff "Königstein" mit weiteren Juden, meistens aus Österreich, speziell Wien, ausgewandert!

Lothar Dreyfuss schrieb am 8. August 1966 aus Chicago/USA:
Ich erlebte noch den Synagogenbrand in Göppingen. Mein Vater war im Krankenhaus in Cannstatt, als zwei SS-Führer im 1. Stock läuteten (wir wohnten im 2.), um meinen Vater abzuholen. Alle jüdischen Männer waren im Dettelbacher (das einzige jüdische Hotel in Göppingen) versammelt und wurden in's Konzentrationslager verschickt! Ich nahm den Zug nachmittags, um meinen Vater zu besuchen. - Im gleichen Wagen saßen Schülerinnen, die sich rühmten, daß sie Eier und Töpfe an die Wand im Café Dettelbacher schmissen.

Heinrich Frankfurter schrieb am 20. August 1966 aus Kiryat Ono/Israel:
In der Kristallnacht, November 1938, wurden mein Vater und mein Bruder verhaftet. Mein Bruder kam nach Dachau in das Konzentrationslager. Mein Vater, der früher ein angesehener Bürger Göppingens war, Handelsrichter und Mitglied des Vorstandes der Ortskrankenkasse usw., wurde ins Gefängnis in Göppingen geworfen. Als nach seiner Rückkehr aus Dachau mein Bruder darauf drängte, daß die Fabrikübergabe nach Recht und Billigkeit durchgeführt wird, wurde er nochmals verhaftet und kam ins Konzentrationslager in Welzheim. Meinem Bruder gelang es dann noch, mit Frau und Kind nach Peru auszuwandern. Meine Eltern jedoch weigerten sich, auszuwandern. Mein Vater vertrat den Standpunkt: "Ich bin ein Deutscher, warum sollte ich ins Ausland gehen; ich habe nie Unrecht getan, warum sollte mir Unrecht geschehen?" Dieser Standpunkt wurde meinen Eltern und vielen Onkels und Tanten zum Verhängnis, welche alle in Konzentrationslagern umgekommen sind.

Stadtarchiv Göppingen, Dokumentation zur Geschichte der Juden.

Enthüllung der Gedenktafel für den 9. November

Den 100. Geburtstag des Rabbiners Dr. Aron Tänzer nahm die Stadt Göppingen zum Anlaß, am Platz der ehemaligen Synagoge eine Gedenktafel zur Erinnerung an das Geschehen in der Reichspogromnacht zu enthüllen. Die Bronzetafel trägt die Inschrift: "Hier stand die im Jahre 1881 erbaute Synagoge der Göppinger jüdischen Gemeinde. Sie wurde gegen Recht und Menschlichkeit am 9. November 1938 zerstört." Bei der Einweihung der Gedenktafel im Jahr 1971, an der Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde Württembergs und Fritz Tänzer, ein Sohn des Göppinger Rabbiners Dr. Aron Tänzer, teilnahmen, hielt Oberbürgermeister Dr. Herbert König die Gedenkrede.

Verehrte Herren der Israelitischen Kultusgemeinde, meine sehr verehrten Anwesenden, liebe Mitbürger!

Eine Stadt ist ein lebendiger Organismus, erfüllt von Leben, von Freude und von Trauer. Eine solche Stadt lebt nicht nur in der Gegenwart, sie plant und denkt an die Zukunft, sie hat aber auch eine Vergangenheit, eine Geschichte. Ihr Geschehen - und davon kommt Geschichte - umfaßt das Gute und die dunklen Kapitel. Sie ist unteilbar und zu beiden müssen wir uns bekennen.

Diese Geschichte unserer Stadt Göppingen und ihrer Bürgerschaft ist in ihren letzten 100 Jahren eine Geschichte auch der jüdischen Bürger Göppingens. Das gilt besonders für die Geschichte der Göppinger Industrie, die nicht geschrieben werden kann, ohne nicht auch wagemutige Unternehmer aus den Reihen der jüdischen Mitbürger zu nennen, die schon in den Gründerjahren der Industrialisierung des Filstales auftauchen, teils von Jebenhausen übergesiedelt sind und auch an der späteren Entwicklung teilhaben. Lassen Sie mich stellvertretend für viele nur etwa die Firma Netter/Eisig nennen, die später in den Göppinger Kaliko- und Kunstlederwerken aufgegangen ist, oder Firmen wie Veit-Filztuchfabrik, Geschmay, Württembergische Filztuchfabrik, die Firmen Gutmann und Frankfurter.

Seit dem 1. Juli 1867 gab es in Göppingen eine selbständige israelitische Gemeinde, die sich bald in der eigenen Synagoge versammeln konnte, und 1874 ein eigenes Rabbinat unter Kirchenrat Max Herz erhielt. Der letzte, der dieses hohe Amt von 1907-1937 innehatte, war Rabbiner Dr. Aron Tänzer. Gestern hätte er seinen 100. Geburtstag feiern können. An seiner Grabstätte auf dem Göppinger Friedhof habe ich einen Kranz niedergelegt mit einer Schleife in den Farben unserer und seiner Stadt Göppingen.

Landesrabbiner Dr. Bloch (links) und Oberbürgermeister Dr. König enthüllen am 31. Januar 1971 die Gedenktafel am Platz der ehemaligen Synagoge.

Am 30. Januar 1871 in Preßburg als Sohn des dortigen Rabbiners Heinrich Tänzer geboren, wirkte er von 1896 bis 1907 als Rabbiner zunächst in Tirol und Vorarlberg und anschließend 30 Jahre lang in Göppingen, das ihm zur zweiten und letzten irdischen Heimat geworden ist. Wie sehr verbunden er mit ihr war, zeigt, daß er

1. unter zahlreichen Schriften auch eine Geschichte der Juden in Göppingen und Jebenhausen geschrieben hat,

2. von 1915 bis 1918 als Armeerabbiner der Bug-Armee am Weltkrieg teilgenommen hat und mehrfach ausgezeichnet wurde,

3. die Geschichte des Veteranen- und Militärvereins "Kampfgenossenschaft" in Göppingen schrieb, dessen Ehrenmitglied er 1921 wurde,

4. 1909 als Mitglied des "Komitee zur Bekämpfung der Schundliteratur" in Göppingen eine öffentliche Volksbibliothek gründete, deren 1000 Bände er 1911 der Stadt übergab, die sie als "Städtische Leihbücherei" bis zur heutigen Stadtbücherei fortentwickelte. Dr. Aron Tänzer war also nicht nur ein treuer Bürger seiner Stadt, er war auch ein aktiver Mitbürger und darüber hinaus ein guter Patriot, der sich in Krieg und Frieden für sein Vaterland eingesetzt hat.

Seit vielen Jahren stehe ich mit über 400 Auslands-Göppingern in ständiger Briefverbindung, auch mit jüdischen Bürgern, die einst in die Emigration gegangen sind. Einer davon ist Fritz Tänzer, der Sohn des Rabbiners. Aus Anlaß des 25. Maientages nach dem Kriege habe ich alle Göppinger in der Fremde zu einem Besuch der Heimat eingeladen. Dieses Heimat"treffen" sollte der äußere Rahmen für die Enthüllung der Tafel sein, die an das bittere Schicksal unserer einstigen jüdischen Mitbürger und an die Synagoge erinnern will. Mit Rücksicht auf den 100. Geburtstag des letzten Göppinger Rabbiners und im Einvernehmen mit dessen Sohn haben wir für diese schlichte Feierstunde schließlich dann doch diesen Tag gewählt, um an der Stätte des langjährigen Wirkens seines Vaters eine Gedenktafel für die Göppinger Synagoge zu enthüllen.

Zum dunkelsten Kapitel in der Geschichte unserer Stadt gehört, daß dieses Gotteshaus am 9. November 1938 zerstört wurde. Auf der Tafel wird da stehen "gegen Recht und Menschlichkeit zerstört".

Mit diesem Akt wollen wir zwar schlicht, aber mit tiefem Mitgefühl jener Göppinger gedenken, die jüdischen Glaubens waren, hier lebten und wirkten zu Nutz und Frommen ihrer Heimatstadt und eines Tages dennoch ausgestoßen, verfolgt wurden, in den Vernichtungslagern umkamen oder emigrieren konnten und nun in der Fremde leben. Mit diesem Akt wollen wir denen, die nun im Ausland leben, demonstrativ bekunden, daß sie zu uns gehören und wollen wir dieses dunkle Kapitel unserer Stadtgeschichte löschen.

Mit diesem Akt wollen wir uns zu Gesetz und Recht und zu den fundamentalen Grundsätzen: Würde des Menschen - Menschlichkeit - Toleranz bekennen, gleich welchen Glaubens, welcher Rasse und Farbe der Mensch auch sei. Dieses Bekenntnis mag in diesen Tagen nicht zuletzt auch eine Antwort auf die Ereignisse im afrikanischen Staat Guinea haben, die sich bis in unseren Göppinger Raum so menschlich tragisch und bitter ausgewirkt haben.

Wenn wir nach diesen Grundsätzen streben, dann haben wir alle die rechte Lehre aus unheilvollen Jahren unserer Stadt und unseres Volkes gezogen. Dann haben wir aber auch das Recht und die Pflicht, auch an andere Völker zu appellieren, das Gleiche zu tun, damit die Geschöpfe Gottes dessen Schöpfung nicht zerstören.

Stadtarchiv Göppingen, Nachlaß Oberbürgermeister Dr. Herbert König.

Gedenkrede von Inge Auerbacher zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Göppinger Synagoge

Inge Auerbacher, deren Vorfahren in Jebenhausen am Vorderen Judenberg zu Hause waren, wurde im Sommer 1942 als siebenjähriges Kind mit ihren Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Die Familie überlebte glücklicherweise die Haft. Nach der Befreiung kehrte sie im Mai 1945 nach Göppingen zurück und emigrierte im folgenden Jahr in die USA. Die Kindheit im KZ schilderte Inge Auerbacher u. a. in ihrem erfolgreichen Buch "Ich bin ein Stern", das 1986 in den USA erschien und danach in viele Sprachen übersetzt wurde, u. a. ins Deutsche. Auf Einladung der Stadt Göppingen hielt Inge Auerbacher am 50. Jahrestag der Zerstörung der Göppinger Synagoge die Gedenkrede.

Die Sonne geht auf und sie geht unter. Eine Jahreszeit verdrängt die andere. Die Sonne erwärmt die kalten Winde des Winters. So ist die Natur. Trotzdem verweilt ein eisiges Gefühl in meinem Herzen. Eine Kälte und ein tiefer Schmerz, von dem ich niemals befreit werden kann. Warum habe ich solche Gefühle?

Wer bin ich?
Ich stehe heute vor Ihnen als ein Symbol des Überlebens eines Wahnsinns von der grauenhaften Zeit des Schrecken und Menschenhasses. Ich bin ein Zeuge, der noch die Erinnerungen dieser Zeit klar im Gedächtnis hat. Jedes Jahr wird die Zahl der Überlebenden kleiner und bald wird keiner mehr da sein, die grauenhafte Geschichte persönlich erläutern zu können. Die heranwachsenden Generationen werden es kaum glauben können, daß solch eine Missetat hier in Deutschland möglich gewesen war. Ein Land, wo die Kultur, Wissenschaft und Menschlichkeit die höchste Stufe im Weltansehen erreicht hatte. Aber die stillen Seufzer der Toten werden immer gehört werden.

Sechs Millionen Seelen, darunter eineinhalb Millionen unschuldiger Kinder deuten auf uns herunter - warum, warum, warum? Bei diesen ist auch meine sehr geliebte Oma und noch zwölf andere Familienangehörige.

Wer bin ich?
Ich bin ein Zweig eines alten jüdischen Familienstammes aus Jebenhausen. Meine Mutter ist eine geborene Lauchheimer und hat das Licht der Welt als Tochter von Max und Betty Lauchheimer am 1. August 1905 in Jebenhausen erblickt. Sie waren die letzte jüdische Familie, die in Jebenhausen ansäßig war. Meine Eltern sind sogar im Jahre 1931 auf dem Rathaus in Jebenhausen standesamtlich zu ihrer Verheiratung von dem damaligen Bürgermeister Failenschmid getraut worden.

Die Geschichte der Juden in Göppingen verdankt ihr Entstehen der Abwanderung jüdischer Familien aus Jebenhausen. Sie formte den Kern für eine erfolgreiche jüdische Gemeinde in Göppingen.

Seit 1777 lebten Juden in Jebenhausen, dank dem edlen Fürst Philipp Friedrich Reichsfreiherr von Liebenstein, der sie aufnahm und durch seinen Schutzbrief ihnen Leben und Rechte zusicherte. Mitte des 19. Jahrhunderts zogen viele Jebenhäuser Juden nach Göppingen, wo sie die Stadt lockte und Gelegenheit für Besserung und Erweiterung ihres Lebensstandards suchten und gelegentlich auch fanden. Viele von ihnen wurden große Fabrikanten und Geschäftsinhaber. Die Namen Gutmann und Fleischer sind ja heute noch bekannt. Die erste jüdische Gemeinde formte sich am 1. Juli 1867, und eine Synagoge ist im Jahre 1881 erbaut worden.

Meine Großeltern gehörten der Göppinger jüdischen Gemeinde an. Jeden Samstag, unser Schabbath, gingen sie zu Fuß bei Wind und Wetter in die prachtvolle Synagoge in Göppingen. Mamas Bruder Karl wurde dort konfirmiert - Bar Mitzvah auf Hebräisch - und heiratete in der gleichen Kapelle.

Gedenkfeier am 50. Todestag der Reichspogromnacht.

Meine liebe Mama erzählt mir noch heute vom wunderbaren Chor der Göppinger Synagoge, dem sie und ihr Bruder angehörten. Einst lebten die Einwohner der Stadt Göppingen und Jebenhausen friedlich zusammen. Sie kämpften und starben vereint in den Kriegen für ihr Vaterland. Wenn man über die reiche jüdische Kultur und das Religionsleben in Göppingen spricht, muß man den berühmten Rabbiner Dr. Aron Tänzer in erster Linie verehren. Er wurde amtlich am 1. September 1907 Rabbiner in Göppingen und war vom Anfang bis zu seinem Tod am 26. Februar 1937 die Seele dieses heiligen Platzes. Er zeichnete sich nicht nur als Seelsorger, Gelehrter und Philosoph aus, sondern auch als großer Menschenfreund. Sein Namen und Ruhm wird ein ewiges Gedenken bleiben.

Es ist kaum zu glauben, daß solch eine friedliche Gemeinschaft nutzlos in einer Nacht zerstört werden konnte. Der 9. November 1938 wird ein ewiges Gedenken in der Weltgeschichte bleiben. In dieser Nacht ist die Friedlichkeit zum größten Haß ausgebrochen, und das Feuer verbreitete sich durch das ganze deutsche Land und Österreich. Das Feuer zerstörte bald alle jüdischen Gotteshäuser in der Stadt und im kleinsten Dorf, es folgte auch die Zerstörung von jüdischen Häusern und Geschäften. Weit und breit hörte man das Klirren der zerschlagenen Fensterscheiben. Dadurch entstand der Name "Kristallnacht". Leider fiel auch unsere geliebte Göppinger Synagoge in dieser Nacht zum Opfer. Was konnte damit bezweckt werden, heilige Stätten den Flammen zum Opfer zu geben und bald alle jüdischen Männer zu verhaften und in Konzentrationslager zu schicken? Es ist nie zu spät, die Verantwortung der Missetat zu empfangen und ein Unrecht zu sehen und Gerechtigkeit walten zu lassen.

Fünfzig Jahre sind seither vergangen und aus dieser Asche muß die Wiedergeburt der Menschenliebe aufgebaut werden. Denn, es war wie ein Blitz vor dem Donnerschlag des Sturmes. Ich hoffe, daß diese Gedenkfeier der 50jährigen Zerstörung unserer geliebten Synagoge die Erinnerungen der Brüderschaft erweckt und daß man sich an die Toten als gute Menschen und Mitbürger erinnert. Ich bin nicht hierhergereist, um nur von Haß und Schande zu sprechen. Nein, mein Herz ist auch voll mit Liebe für die Menschheit. Ich kann nicht die jungen Deutschen für die Schandtaten ihrer Eltern und Großeltern beschuldigen. Ich werde auch nicht das ganze deutsche Volk verdammen für diese Missetat, obwohl ich mich erinnere, daß die meisten uns Juden verlassen haben. Es gab Ausnahmen, aber nicht viele.

Ich bin dankbar für Ihr Interesse, im Stadtarchiv Göppingen und mit dem Museum in Jebenhausen das Leben der Juden zu verewigen.

Wer bin ich?
Ich erinnere mich an die schönsten Jahre meiner kurzen Kindheit bei meinen geliebten Großeltern in Jebenhausen. Mein lieber Opa wurde als letzter Jude im Jahre 1939 auf dem israelitischen Friedhof in Jebenhausen beerdigt. Es war kurz nachdem er vom KZ Dachau zurück kam. Er wollte nie auswandern und hing bis zu seinem letzten Atemzug an seiner geliebten Heimat in Jebenhausen. Stunden vor seinem Tode raffte er die letzten Kräfte zusammen, schaute am Fenster die Straße auf und ab als ein verzweifelter Mann. Er hätte es nicht glauben können, daß seine geliebte Frau Betty Lauchheimer ihm am Ende 1941 so schnell nachfolgen würde und nicht neben ihm ruhen durfte. Sie liegt in einem Massengrab im Wald bei Riga in Lettland, wo sie der SS zum Opfer gefallen war.

1939 übersiedelten meine Eltern und ich von meinem Geburtsort Kippenheim/ Baden nach Jebenhausen, wo wir bis 1941 wohnten. Nachdem meine Großmutter Ende 1941 abtransportiert wurde, mußten wir ihr Haus in Jebenhausen verlassen und in einem jüdischen Gemeinschaftshaus in der Metzgerstraße in Göppingen einziehen. Als sechsjähriges Kind mußte ich den schamvollen Gelben Stern tragen, um meine jüdische Herkunft zu zeigen. Schon in dieser Zeit regte sich der Gedanke in mir "Übel kann auch in Gutes verwandelt werden".

"Meine Stimme schreit auf in der Stille, Niemand bricht meine Menschlichkeit und meinen Willen: ICH BIN EIN STERN!"

Im August 1942 wurde ich mit meinen Eltern und anderen Juden aus Göppingen in der Turnhalle der Schillerschule versammelt, dann nach Stuttgart befördert und von dort aus mit einem zusammengesetzten Transport nach dem KZ Theresienstadt in der Tschechoslowakei verschickt, wo wir bis 1945 interniert waren. Von unserem Transport sind von 1200 Personen nur 13 zurückgekommen. Nach unserer Rückkehr 1945 verblieben wir kurze Zeit noch in Göppingen und sind dann 1946 nach Amerika ausgewandert.

Laßt unsere Bande in Freundschaft vereinigen und der heutigen Jugend zeigen, daß wir alle Kinder Gottes sind.

Wer bin ich?
Ich bin ein Freund der Menschheit, ein Freund des Friedens.

Den Text der Gedenkrede hat Inge Auerbacher freundlicherweise dem Stadtarchiv Göppingen überlassen.

Quellen

Archive

Staatsarchiv Ludwigsburg

EL 322, Bü 19 236

PL 502/13

Stadtarchiv Göppingen

Altregistratur des Hauptamts, 5427

Dokumentation zur Geschichte der Juden

Göppinger Wochenblatt

Der Hohenstaufen - Göppinger Zeitung
Neue Württembergische Zeitung - Göppinger Kreisnachrichten

Literatur

Benz, Wolfgang: Der Novemberpogrom 1938. In: Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. Hrsg. von Wolfgang Benz. München 1988, S. 499-544.

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Kreis Göppingen (Hrsg.): Pogrom gegen die Juden in Göppingen 9. bis 10. November 1938 - "Reichskristallnacht". 2. Aufl. Göppingen 1992.

Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. München 1988.

Hammer-Schenk, Harold: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Hamburg 1981.

Hüttenmeister, Gil/Rueß, Karl-Heinz: Jüdisches Museum Göppingen. Weißenhorn 1992.

Klotz, Ulrich: Reichskristallnacht in Göppingen. Wissenschaftliche Arbeit im Fach Geschichte/Politikwissenschaft an der Berufspädagogischen Hochschule Stuttgart. Masch. Stuttgart 1980.

Mairgünther, Wilfried: Reichskristallnacht. Kiel 1987.

Manvell, Roger: Hermann Göring. Aufstieg und Fall des Reichsmarschalls. Rastatt 1983.

Metzger, Hartmut: Kristallnacht. Dokumente von gestern zum Gedenken heute. Stuttgart 1978. Pehle, Walter H. (Hrsg.): Der Judenpogrom 1938. Von der "Reichskristallnacht" zum Völkermord. Frankfurt am Main 1988.

Rapp, Wolfgang: Die Bedeutung des Erinnerns für die politische Erwachsenenbildung. In: Wegstrecken. Beiträge zur Religionspädagogik und Zeitgeschichte. Festschrift Jörg Thierfelder zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gerhard Büttner, Dieter Petri und Eberhard Röhm. Stuttgart 1998, S. 328-339.

Rueß, Karl-Heinz: Die Israelitische Gemeinde Göppingen 1927-1945. In: Aron Tänzer: Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen. Mit erweiternden Beiträgen über Schicksal und Ende der Göppinger Judengemeinde 1927-1945. Neu hrsg. von Karl-Heinz Rueß. Weißenhorn 1988, S. 575-619.

Weber, Georg: Zeugnisse der Judenverfolgung im Kreis Göppingen 1933-1945. Zulassungsarbeit zur II. Dienstprüfung. Masch. Aufhausen 1967.

Veröffentlichungen

aus der Veranstaltungsreihe
"Dialog im Museum"
im Jüdischen Museum Göppingen

Konrad Plieninger
"Ach, es ist alles ohne Ufer..."
Briefe aus dem Warschauer Ghetto
Göppingen 1996. Selbstverlag
39 Seiten mit Abbildungen

Gerhard Werle, Thomas Wandres
Auschwitz vor Gericht.
Das Urteil gegen Dr. Victor Capesius
Göppingen 1997. Selbstverlag
40 Seiten mit Abbildungen

Thomas Stöckle
Die "Aktion T4". Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" in den Jahren
1940/41 und die Heilanstalt Christophsbad in Göppingen
Göppingen 1998. Selbstverlag
43 Seiten mit Abbildungen

Bezug der Schriften:
Stadt Göppingen, Archiv und Museen
Postfach 11 49, D-73011 Göppingen

Dank

Die Herausgabe dieser Veröffentlichung wurde unterstützt durch einen Zuschuß der Landeszentale für politische Bildung Baden-Württemberg und durch eine Spende des Hohenstaufen-Gymnasiums Göppingen

Umschlag
Blick in den zerstörten Innenraum der Göppinger Synagoge

Bildnachweis
Stadtarchiv Göppingen (Umschlag, S. 5, 11-16, 33, 41, 46, 49)
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart (S. 31, 32)
Bildarchiv Werner Gassenmayer, Göppingen-Jebenhausen (S. 17)

© 1998 Verfasser und Stadt Göppingen
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Frank+Ranger, Stuttgart
Gesamtherstellung: Bechtel Druck GmbH, Ebersbach an der Fils

GÖPPINGEN
Hohenstaufenstadt

© Stadt Göppingen, Archiv und Museen